Analyse Nachhaltige Mode / 16. Mai 2022
Spirale statt Kreislauf
Über nachhaltige und faire Mode wird seit Jahrzehnten intensiv diskutiert. Alle reden von Kreislaufwirtschaft, und viele Modeunternehmen haben Sustainability-Projekte angekündigt. Doch die Realität ist mehr als ernüchternd. Nun will die Europäische Kommission mit einer umfangreichen Textilstrategie die Mode zur Nachhaltigkeit verpflichten.
Eine Analyse von Joachim Schirrmacher
Zum Teil II Optionen: Besser als das Gleiche in Grün
85 Prozent aller Unternehmen sehen Nachhaltigkeit als Unternehmensstrategie. Das liegt neben allem persönlichen Engagement von Frauen wie Antje von Dewitz und Männern wie Michael Otto auch daran, dass inzwischen fast alle größeren Modeunternehmen im Besitz von Investoren oder Aktiengesellschaften sind. Vieles ist daher ein Ankündigungsmarketing, das sich an die Öffentlichkeit richtet und die Shareholder abholen soll. Zumeist werden Vorzeigeprojekte in kleinen Stückzahlen aufgelegt. Das Kerngeschäft ändert sich hingegen kaum.
Circular Economy statt Recycling?
Besonders beliebt ist das Werben für eine Kreislaufwirtschaft mit Slogans wie „Recyceln Sie Mode“. Aus alt wird neu, ein perfektes Perpetuum Mobile: Regen fällt, fließt durch die Obstwiese und in einen Fluss, weiter ins Meer, verdunstet in den Himmel und fällt wieder. Nur zu gerne wollen wir es glauben.
Damit die Modeindustrie nicht nur redet will die Europäische Kommission sie jetzt zur Nachhaltigkeit verpflichten. Sie sagt damit der Fast Fashion und Überproduktion sowie dem Greenwashing den Kampf an. Ende März hat sie dazu eine umfangreiche und ehrgeizige „EU-Strategie für nachhaltige und kreislauffähige Textilien“ (EU-Textilstrategie) vorgestellt.
Bis 2030 sollen in der EU auf den Markt gebrachte Textilien langlebig und kreislauffähig gestaltet und unter Wahrung der sozialen Rechte und des Umweltschutzes hergestellt sein. Sie sollen dabei größtenteils aus Recyclingfasern bestehen und frei von umweltschädlichen Schadstoffen und Mikroplastik sein. Zudem soll die Kreislaufwirtschaft in der Mode florieren und über ausreichende Kapazitäten für ein Faser-zu-Faser-Recycling verfügen. Hersteller müssen künftig die Verantwortung für ihre Produkte vom Design bis zur Entsorgung übernehmen.
Von Null auf Hundert
Die Ziele sind extrem ehrgeizig, denn bislang ist die „Circular Economy“ in der Mode nur Vision. Einen echten Kreislauf, in dem Altkleider zu neuen Textilien werden, gibt es bisher nicht. Neben Secondhandkleidung ist das Recycling von Altkleidern, die nicht mehr getragen werden können, derzeit die einzige Lösung. Doch dieses Recycling ist eine Abwärtsspirale, kein Kreislauf. Jeans werden bestenfalls zu Viskosegarnen, die meisten Textilien jedoch zu Putzlappen für die Industrie, Vlies- und Isolierstoffen oder Pappe. Immerhin ein Fortschritt zum linearen Modell, bei dem die Alttextilien direkt in der Verbrennung oder auf einer Deponie landeten.
Viele andere Projekte sind Scheinlösungen. So stammt recyceltes Polyester in Kleidung von PET-Flaschen und nicht aus Polyesterkleidung aus dem Altkleider-Container. Daher muss für die Flaschenproduktion auch neues Polyester verwendet werden. Die EU-Kommission sieht dies als Irreführung der Verbraucher und als Verstoß gegen den geschlossenen Kreislauf für PET- Lebensmittelflaschen.
Und so sinnvoll ein Upcycling, also aus älteren Teilen neue Kleidung zu nähen, im privaten Bereich, für Kleinserien und vor allem für einen Bewusstseinswandel ist, bietet es keine industrielle Perspektive.
Biobasierte Garne aus Algen, Ananas- oder Bananenschalen, Blüten, CO2 oder Milch, Lebensmittelreste zum Färben von Textilien oder das biologisch abbaubare Stretchgarn Coreva stecken noch in den Kinderschuhen.
Die EU-Kommission ruft daher die Unternehmen auf, ihre Bemühungen auf das Faser-zu-Faser-Recycling zu konzentrieren. Derzeit liegt der Anteil unter einem Prozent, so die Ellen-MacArthur-Stiftung. Es gilt also eine „Lücke“ von 99 Prozent in nur acht Jahren zu schließen. Bislang gibt es nur wenige Forschungs- und Pilotprojekte. Und diese sind noch ganz am Anfang mit minimalen Produktionsmengen, die angekündigt wurden. Zu den wichtigsten Projekten zählen:
– Prozesssichere Materialerkennung (verschiedene Ansätze wie Chips circularity.ID)
– Optimiertes mechanisches Recycling mit längeren Fasern
– Chemisches Trennen von Polyester/Baumwolle (Re:wind, Resyntex mit I Collect und Soex, Uni Wien, Worn Again Technologies)
– Chemische Umwandlung von Baumwolle zu Viskose (Evrnu, re:newcell, Saxion, SaXcell, Södra, Lenzing)
– Trennung von Baumwoll/Elasthan (Re:Mix)
Keine Frage: Dies sind wichtige Fortschritte, und es gibt große Hoffnungen, dass aus dem Faser-zu-Faser-Recycling ein gigantisches Geschäft wird. Doch die Herausforderungen sind noch enorm: Der Energieaufwand z.B. für das Säubern und Entfärben ist sehr hoch. Der Mix verschiedener Polyesterarten ist problematisch. Elasthan oder Chemikalien in den Alttextilien beeinträchtigen den Prozess. Beispielsweise verstopfen sie die Düsen der Spinnmaschinen. Recyclingfasern sind zudem teurer als Primärrohstoffe.
Wo liegt das Problem?
Auf absehbare Zeit findet daher ein Recycling von Fasern zu neuen Kleidern, aufgrund technologischer Grenzen wie der Faserlänge, im großindustriellen Maßstab praktisch nicht statt. Eine Übersicht von 2021 zum Stand der Recycling-Technik der RWTH Aachen kommt sogar zu dem ernüchternden Fazit: „Recycling wird die Nachhaltigkeitsprobleme in der Textil-Industrie nicht lösen.“
Das Versprechen der Bioökonomie bzw. des Green Deal, wir könnten dank des technologischen Fortschritts mit reinem Gewissen so weiterleben wie bisher, erscheint also als Illusion.
Dabei geht es um unfassbare Mengen. Seit dem Jahr 2000 hat sich laut der Ellen-MacArthur-Stiftung der Konsum von Kleidung verdoppelt und die Tragezeit zudem halbiert. Da die Preise für Mode in der EU zwischen 1996 und 2018 inflationsbereinigt laut der EU-Textilstrategie um über 30 Prozent gesunken sind, sind Mengen aussagekräftiger als Umsätze, um sich die Dimensionen vor Augen zu führen.
Pro Jahr werden schätzungsweise statt einst 50 jetzt etwa 120 Milliarden Kleidungsstücke weltweit hergestellt. Greenpeace spricht sogar von rund 200 Milliarden. Davon sollen laut der Ellen MacArthur Stiftung 40 Prozent nicht verkauft worden sein.
Vom Gebrauch zum Verbrauch
In Deutschland wurden davon 2018 laut Statista ca. 4,7 Milliarden Kleidungsstücke verkauft, das sind im Durchschnitt 56 Teile für jeden – vom Baby bis zum Greis. Und das Produktionsvolumen von Kleidungsstücken steigt weiter jährlich um 2,7 Prozent an.
Frauen kaufen deutlich mehr Mode wie Männer: Laut einer Studie der Hochschule Macromedia von 2021 besitzen Frauen im Schnitt 175 und Männer 105,4 Kleidungstücke. Etwa ein Drittel davon wurde in den letzten 12 Monaten gekauft.
Kleidung wird laut der Initiative der Bundesregierung „Grüner Knopf“ im Schnitt viermal getragen, vieles gar nicht. So stehen drei Lieblingsteilen drei sogenannte Schrankleichen gegenüber.
Der Gebrauch wurde zu einem rapiden Verbrauch von Kleidung. Und das nicht nur in Deutschland, Europa oder den USA. Mit dem Anwachsen der Weltbevölkerung bis 2030 auf mehr als 8,5 Milliarden Menschen und steigendem Haushaltseinkommen auch in China, Indien oder Brasilien.
Überfluss bis zum Überdruß
Fast Fashion, also preisgünstige Kleidung oft minderer Qualität, gilt als Hauptverursacher des Überangebots an Mode. Zara brachte als eines der ersten Unternehmen alle zwei Wochen neue Modelle auf den Markt, statt ein- oder zweimal pro Saison. Wer keine Marktanteile verlieren wollte, musste mitziehen. Die Fast Fashion war geboren und wurde als „Demokratisierung der Mode“ gefeiert. Signalwirkung hatte 2004 die Kollektion „Karl Lagerfeld by H&M“. Einige Unternehmen produzieren gar bis zu 52 Kollektionen im Jahr. Oft in Qualitäten, die selbst für eine Weiterverwendung als Putzlappen zu schlecht sind. Anbieter wie Shein aus China bieten täglich Neuheiten; diese werden überwiegend von Teenies in aller Welt gekauft, also der Generation „Fridays for Future“. Mit wechselnden Moden hat die Fast Fashion nur sehr bedingt zu tun. Es geht vor allem um Konsumanreize. Stores und Medien brauchen schließlich immer neue Impulse.
Berauschung durch Betäubung
Keine Frage, es ist ein großer Gewinn, dass Dank des industriellen Fortschritts „Mode für Millionen“ möglich geworden ist. So entwarf Karl Lagerfeld von 1987 bis 1995 auch Mode für Klaus Steilmann, dem Gründer der Stiftung, die den European Fashion Award FASH auslobt.
Doch die Demokratisierung der Mode hat sich als ein Überkonsum für alle herausgestellt. Der Journalist Gert Scobel analysiert: „In Wirklichkeit handelt es sich nicht um echten Luxus, sondern um seine Simulierung [… die] leer läuft und immer schneller durch neuen Konsum angeregt werden muss.“
Letzlich wirkt der Überkonsum von Mode und Instagram wie eine Narkose. Sie betäubt Langeweile, mangelndes Selbstbewusstsein und oft wohl auch eine unbewusste religiöse Sehnsucht und Orientierungssuche.
Mit etwas Abstand erkennt man schnell, dass der heutige westliche Konsumlevel, den viele für normal halten, ein Ausnahmezustand in der Geschichte ist. Es gibt kein Menschenrecht auf grenzenlosen Konsum. Zumal dies auf Kosten der Umwelt, der Arbeiterinnen und der kommenden Generationen geschieht.
Wie konnte es soweit kommen?
Ein wesentlicher Auslöser des ungeheuren Aufstiegs der Fast Fashion ist das Auslaufen jedweder Handelsbeschränkungen mit dem Fall des Welttextilabkommens (WTO) zum Ende 2004. 1974 waren die Importquoten zum Schutz von Arbeitsplätzen im Westen vor Billigimporten eingeführt worden. Die Abschaffung und Öffnung der Märkte war in Zeiten des Neoliberalismus von der Politik gewollt. Die globale Beschaffung wurde in der Folge neu kalibriert. Die Preise sanken stark. Allein 5 bis 10 Prozent entfielen durch den Wegfall der Kosten für die Quoten. Ganze Länder, wie in Afrika, verloren ihre Textilindustrie. Die Exporte stiegen schon 2005 so stark, dass China auf Druck der EU die Exporte freiwillig begrenzte. Seit der Handel nicht mehr durch Quoten begrenzt wurde, legten die Fast Fashion Anbieter und Textil-Discounter ein ungeheures Wachstum an den Tag.
Brandbeschleuniger
Das Aufkommen des Onlinehandels von Amazon bis Zalando und vor allem der inzwischen fast zum Standard gewordenen kostenlosen Retouren führte zu Rücksendequoten für Mode von bis zu 60 Prozent. „Schrei vor Glück – oder schick‘s zurück“ – auch dies verstärkte den Modekonsum maßgeblich.
Zeitgleich stieg Instagram in kürzester Zeit zum heute dominanten Mode-Medium auf und wirkt wie ein zusätzlicher Brandbeschleuniger. Laut einer Studie des Netzwerks LTK tätigen 42 Prozent der „Gen Z“ den Großteil ihrer Einkäufe über Soziale Medien wie Instagram oder TikTok. Die Folge der billigen Preise und ständig neuen Konsumanreize: Millionen kaufen zu viel Kleidung, zu oft und meist viel zu unüberlegt.
Die Kraft des Irrationalen
Warum kaufen wir soviel? Wir wissen es wohl selber nicht. Und wollen nicht darüber nachdenken. Marktforscher Ralph Ohnemus erklärt die mangelnde Konsequenz mit Hinweis auf den Nobelpreisträger Daniel Kahnemann so: „Wir sind faul und wollen nicht zu viel denken.“ Statt bewusst zu konsumieren, folgen wir einfach unseren Emotionen. Denn beim logischen Denken braucht unser Gehirn viel Energie.
Schon das Luxurieren der Natur – etwa beim Pfau – legt nahe, dass das Streben nach Differenz zur Evolution gehört und dass die Lust an der Verschwendung in der Triebstruktur wurzelt. Und so war ein zur Schau gestellter Konsum schon immer eine Demonstration von Macht. Gerade auf Instagram erhalten laute Inszenierungen Aufmerksamkeit und erhöhen so das „symbolische Kapital“.
Gegen diese Kraft des Irrationalen kommen die Argumente der Vernunft kaum an. Seit der Antike blieben alle Aufrufe zur Askese weitgehend erfolglos.
Statt einen tatsächlichen Bedarf zu stillen, ermöglicht es unser Wohlstand in Verbindung mit billiger Fast Fashion, dass wir heute vielfach nur noch kaufen „um unsere Stimmung zu modulieren“, wie Carl Tillessen in seinem Bestseller „Konsum“ schreibt. Ob aus Langeweile, als Belohnung oder zum Trost.
Der wirksame Weg
Der wirksamste Weg ist denkbar einfach: Kleidungsstücke deutlich länger zu tragen. Auch Secondhand-Kleidung ist eine Möglichkeit, sich ressourcenschonend einzukleiden und weiterhin Spaß an Mode zu haben. Das Geschäft mit Secondhand-Mode boomt. Doch die Gleichung von Secondhand und Nachhaltigkeit geht nur auf, wenn insgesamt nicht mehr Kleidung konsumiert wird. Denn die niedrigen Preise und das gute Gewissen verleiten schnell zu noch mehr Konsum, , dem sogenannten Rebound oder Bumerang-Effekt.
Europa Rekord
Wieviele Altkleider es in Deutschland gibt, ist unklar, da keine genauen Daten erfasst werden. Nach Berechnungen des Bundesverband Sekundärrohstoffe und Entsorgung (BVSE) bringen rund 85 Prozent der Deutschen ihre Altkleider zum Sammelcontainer: ein Rekord in Europa. So werden hierzulande pro Jahr knapp 1,3 Million Tonnen Altkleider in etwa 120.000 Containern gesammelt. Somit landen fast drei Viertel aller ungewollten Kleider bei Textilverwertern.
ZDF Dokumentation von 2018 über das Werk Bitterfeld-Wolfen des Textilrecyclers „Soex“ © Soex
Allein beim Marktführer Soex in Bitterfeld-Wolfen können jedes Jahr bis zu 100.000 Tonnen sortiert werden. Davon sind 10 Prozent neuwertig und werden in deutschen Secondhand Läden verkauft. Weitere 45 Prozent werden als Secondhand-Kleidung in mehr als 45 Ländern exportiert. 15 Prozent werden zu Putzlappen für die Industrie, 20 Prozent werden in der Reisserei in genau definierten Qualitäten zu Rohstoffen für Autohimmel, Isolier- und Füllstoffen, Malervlies oder für Kleiderbügel verarbeitet. Und die letzten 10 Prozent gelten als Abfall, von dem noch 3 Prozent an die Pappenindustrie verkauft werden. Die restlichen 7 Prozent müssen gegen Gebühr fachgerecht verbrannt werden. Allerdings verschieben sich die Anteile. Jedes Jahr landen mehr Textilien im Reisswolf oder der Verbrennungsanlage.
Wir haben keine Lösungen
Jahrzehntelang war das Geschäft mit Altkleidern so einträglich wie einfach gewesen. Die Verwerter wie Soex kauften Kommunen und karitativen Organisationen die gesammelten Altkleider ab, sortierten sie und exportierten das Gros als Secondhandware nach Osteuropa, in den Nahen Osten sowie Afrika. Die Nachfrage war viel höher als das Angebot.
Doch seit 2015 ist dieser Markt im Umbruch. Mehr Fast Fashion in den Sammlungen bedeutet eine deutlich schlechtere Qualität, so die BVSE-Studie von 2015. Da die Sortierer das Recycling der untragbaren Kleidung mit den Erlösen der hochwertigen Secondhandkleidung finanzieren, entstand eine prekäre Situation. Was gut ist für die Umwelt, verschärft die Krise der Textilsortierer.
Die einstige Spitzenware in den Sammlungen wird heute meist direkt von Privat an Privat über Internetplattformen oder über Online-Shops für Vintage-Mode verkauft. Dieses Geschäft wächst laut Global Data 21-mal so schnell wie die gesamte Modeindustrie auf prognostizierte 54 Milliarden Euro im Jahr 2024. Die Verbraucherpreise steigen stark, so dass schon von einer „Gentrifizierung von Secondhandmode“ gesprochen wird. Zugleich wehren sich viele afrikanische Länder zunehmend gegen den Import von Secondhandware. Zudem wird dort Kleidung aus China oft billiger verkauft als europäische Secondhand-Ware, auch wegen stark unterschiedlicher Zollgebühren.
Es quellen nicht nur die Kleiderschränke der Konsumenten über. Auch die Lagerhallen von Industrie und Handel sind mit überschüssiger Neuware und Retouren voll. Die Absatzmärkte sind hingegen übersättigt. Laut dem Spitzenverband Euratex gibt es keinen Plan, wohin wir in Europa mit künftig mehr als 5 Millionen Tonnen Altkleidern sollen. Diese Menge dürfte nochmals um geschätzte zwei Millionen Tonnen pro Jahr steigen, wenn ab dem 1. Januar 2025 das EU-Abfallrecht die getrennte Sammlung von Textilien vorschreibt. Dafür gibt es aktuell in Europa keine ausreichenden Sortier- und Verwertungskapazitäten. Zumal die EU ab 2023 den Export von Textilabfällen in Nicht-OECD-Länder verbieten will.
Es sind mehrere sich verstärkende Teufelskreise entstanden, aus denen es keinen Ausweg zu geben scheint. Sie sind für die Mode in ökologischer und sozialer Hinsicht so verheerend, dass die ersten Experten schon Bekleidungskontingente für jeden Bürger ins Gespräch bringen. Es ist wie in Goethes Zauberlehrling: Was als Segen anfing, wurde zur Ausgeburt der Hölle: „Die ich rief, die Geister, werd ich nun nicht los.“
Durch die Pandemie, Social Media und Games, Diskussionen über Diversität und Gender sowie neue Kunstformen und die US-Popkultur aber auch durch die Digitalisierung und Nachhaltigkeit befinden sich Werte und damit die Ästhetik in einem so starken Wandel, wie wohl seit den 1960er Jahren nicht mehr. Das gibt die Chance für eine ganz neue Mode. Und damit für neue Wertstoffketten.
Zum Teil II Optionen: Besser als das Gleiche in Grün
Joachim Schirrmacher
Nach seiner Lehre zum Einzelhandelskaufmann studierte er Designmanagement mit Schwerpunkten wie Ökologie oder Gender. Seit 1994 beschäftigt er sich in seiner Arbeit mit Nachhaltiger Mode. Er arbeitet seit über 20 Jahren als Autor (Chefredakteur Style in Progress, Tagesspiegel, NZZ), Sprecher (Copenhagen Business School, Goethe-Institut, HDS/L) und Kommunikationsexperte für Unternehmen wie Carroux Caffee, Freitag Lab AG, Messe München oder Retail Brand Services sowie Institutionen wie dem Auswärtigen Amt. Seit 2004 verantwortet er pro bono den European Fashion Award FASH der SDBI.DE www.schirrmacher.org
Über nachhaltige und faire Mode wird seit Jahrzehnten intensiv diskutiert. Alle reden von Kreislaufwirtschaft, und viele Modeunternehmen haben Sustainability-Projekte angekündigt. Doch die Realität ist mehr als ernüchternd. Nun will die Europäische Kommission mit einer umfangreichen Textilstrategie die Mode zur Nachhaltigkeit verpflichten.
Eine Analyse von Joachim Schirrmacher
Zum Teil II Optionen: Besser als das Gleiche in Grün
85 Prozent aller Unternehmen sehen Nachhaltigkeit als Unternehmensstrategie. Das liegt neben allem persönlichen Engagement von Frauen wie Antje von Dewitz und Männern wie Michael Otto auch daran, dass inzwischen fast alle größeren Modeunternehmen im Besitz von Investoren oder Aktiengesellschaften sind. Vieles ist daher ein Ankündigungsmarketing, das sich an die Öffentlichkeit richtet und die Shareholder abholen soll. Zumeist werden Vorzeigeprojekte in kleinen Stückzahlen aufgelegt. Das Kerngeschäft ändert sich hingegen kaum.
Circular Economy statt Recycling?
Besonders beliebt ist das Werben für eine Kreislaufwirtschaft mit Slogans wie „Recyceln Sie Mode“. Aus alt wird neu, ein perfektes Perpetuum Mobile: Regen fällt, fließt durch die Obstwiese und in einen Fluss, weiter ins Meer, verdunstet in den Himmel und fällt wieder. Nur zu gerne wollen wir es glauben.
Damit die Modeindustrie nicht nur redet will die Europäische Kommission sie jetzt zur Nachhaltigkeit verpflichten. Sie sagt damit der Fast Fashion und Überproduktion sowie dem Greenwashing den Kampf an. Ende März hat sie dazu eine umfangreiche und ehrgeizige „EU-Strategie für nachhaltige und kreislauffähige Textilien“ (EU-Textilstrategie) vorgestellt.
Bis 2030 sollen in der EU auf den Markt gebrachte Textilien langlebig und kreislauffähig gestaltet und unter Wahrung der sozialen Rechte und des Umweltschutzes hergestellt sein. Sie sollen dabei größtenteils aus Recyclingfasern bestehen und frei von umweltschädlichen Schadstoffen und Mikroplastik sein. Zudem soll die Kreislaufwirtschaft in der Mode florieren und über ausreichende Kapazitäten für ein Faser-zu-Faser-Recycling verfügen. Hersteller müssen künftig die Verantwortung für ihre Produkte vom Design bis zur Entsorgung übernehmen.
Von Null auf Hundert
Die Ziele sind extrem ehrgeizig, denn bislang ist die „Circular Economy“ in der Mode nur Vision. Einen echten Kreislauf, in dem Altkleider zu neuen Textilien werden, gibt es bisher nicht. Neben Secondhandkleidung ist das Recycling von Altkleidern, die nicht mehr getragen werden können, derzeit die einzige Lösung. Doch dieses Recycling ist eine Abwärtsspirale, kein Kreislauf. Jeans werden bestenfalls zu Viskosegarnen, die meisten Textilien jedoch zu Putzlappen für die Industrie, Vlies- und Isolierstoffen oder Pappe. Immerhin ein Fortschritt zum linearen Modell, bei dem die Alttextilien direkt in der Verbrennung oder auf einer Deponie landeten.
Viele andere Projekte sind Scheinlösungen. So stammt recyceltes Polyester in Kleidung von PET-Flaschen und nicht aus Polyesterkleidung aus dem Altkleider-Container. Daher muss für die Flaschenproduktion auch neues Polyester verwendet werden. Die EU-Kommission sieht dies als Irreführung der Verbraucher und als Verstoß gegen den geschlossenen Kreislauf für PET- Lebensmittelflaschen.
Und so sinnvoll ein Upcycling, also aus älteren Teilen neue Kleidung zu nähen, im privaten Bereich, für Kleinserien und vor allem für einen Bewusstseinswandel ist, bietet es keine industrielle Perspektive.
Biobasierte Garne aus Algen, Ananas- oder Bananenschalen, Blüten, CO2 oder Milch, Lebensmittelreste zum Färben von Textilien oder das biologisch abbaubare Stretchgarn Coreva stecken noch in den Kinderschuhen.
Die EU-Kommission ruft daher die Unternehmen auf, ihre Bemühungen auf das Faser-zu-Faser-Recycling zu konzentrieren. Derzeit liegt der Anteil unter einem Prozent, so die Ellen-MacArthur-Stiftung. Es gilt also eine „Lücke“ von 99 Prozent in nur acht Jahren zu schließen. Bislang gibt es nur wenige Forschungs- und Pilotprojekte. Und diese sind noch ganz am Anfang mit minimalen Produktionsmengen, die angekündigt wurden. Zu den wichtigsten Projekten zählen:
– Prozesssichere Materialerkennung (verschiedene Ansätze wie Chips circularity.ID)
– Optimiertes mechanisches Recycling mit längeren Fasern
– Chemisches Trennen von Polyester/Baumwolle (Re:wind, Resyntex mit I Collect und Soex, Uni Wien, Worn Again Technologies)
– Chemische Umwandlung von Baumwolle zu Viskose (Evrnu, re:newcell, Saxion, SaXcell, Södra, Lenzing)
– Trennung von Baumwoll/Elasthan (Re:Mix)
Keine Frage: Dies sind wichtige Fortschritte, und es gibt große Hoffnungen, dass aus dem Faser-zu-Faser-Recycling ein gigantisches Geschäft wird. Doch die Herausforderungen sind noch enorm: Der Energieaufwand z.B. für das Säubern und Entfärben ist sehr hoch. Der Mix verschiedener Polyesterarten ist problematisch. Elasthan oder Chemikalien in den Alttextilien beeinträchtigen den Prozess. Beispielsweise verstopfen sie die Düsen der Spinnmaschinen. Recyclingfasern sind zudem teurer als Primärrohstoffe.
Wo liegt das Problem?
Auf absehbare Zeit findet daher ein Recycling von Fasern zu neuen Kleidern, aufgrund technologischer Grenzen wie der Faserlänge, im großindustriellen Maßstab praktisch nicht statt. Eine Übersicht von 2021 zum Stand der Recycling-Technik der RWTH Aachen kommt sogar zu dem ernüchternden Fazit: „Recycling wird die Nachhaltigkeitsprobleme in der Textil-Industrie nicht lösen.“
Das Versprechen der Bioökonomie bzw. des Green Deal, wir könnten dank des technologischen Fortschritts mit reinem Gewissen so weiterleben wie bisher, erscheint also als Illusion.
Dabei geht es um unfassbare Mengen. Seit dem Jahr 2000 hat sich laut der Ellen-MacArthur-Stiftung der Konsum von Kleidung verdoppelt und die Tragezeit zudem halbiert. Da die Preise für Mode in der EU zwischen 1996 und 2018 inflationsbereinigt laut der EU-Textilstrategie um über 30 Prozent gesunken sind, sind Mengen aussagekräftiger als Umsätze, um sich die Dimensionen vor Augen zu führen.
Pro Jahr werden schätzungsweise statt einst 50 jetzt etwa 120 Milliarden Kleidungsstücke weltweit hergestellt. Greenpeace spricht sogar von rund 200 Milliarden. Davon sollen laut der Ellen MacArthur Stiftung 40 Prozent nicht verkauft worden sein.
Vom Gebrauch zum Verbrauch
In Deutschland wurden davon 2018 laut Statista ca. 4,7 Milliarden Kleidungsstücke verkauft, das sind im Durchschnitt 56 Teile für jeden – vom Baby bis zum Greis. Und das Produktionsvolumen von Kleidungsstücken steigt weiter jährlich um 2,7 Prozent an.
Frauen kaufen deutlich mehr Mode wie Männer: Laut einer Studie der Hochschule Macromedia von 2021 besitzen Frauen im Schnitt 175 und Männer 105,4 Kleidungstücke. Etwa ein Drittel davon wurde in den letzten 12 Monaten gekauft.
Kleidung wird laut der Initiative der Bundesregierung „Grüner Knopf“ im Schnitt viermal getragen, vieles gar nicht. So stehen drei Lieblingsteilen drei sogenannte Schrankleichen gegenüber.
Der Gebrauch wurde zu einem rapiden Verbrauch von Kleidung. Und das nicht nur in Deutschland, Europa oder den USA. Mit dem Anwachsen der Weltbevölkerung bis 2030 auf mehr als 8,5 Milliarden Menschen und steigendem Haushaltseinkommen auch in China, Indien oder Brasilien.
Überfluss bis zum Überdruß
Fast Fashion, also preisgünstige Kleidung oft minderer Qualität, gilt als Hauptverursacher des Überangebots an Mode. Zara brachte als eines der ersten Unternehmen alle zwei Wochen neue Modelle auf den Markt, statt ein- oder zweimal pro Saison. Wer keine Marktanteile verlieren wollte, musste mitziehen. Die Fast Fashion war geboren und wurde als „Demokratisierung der Mode“ gefeiert. Signalwirkung hatte 2004 die Kollektion „Karl Lagerfeld by H&M“. Einige Unternehmen produzieren gar bis zu 52 Kollektionen im Jahr. Oft in Qualitäten, die selbst für eine Weiterverwendung als Putzlappen zu schlecht sind. Anbieter wie Shein aus China bieten täglich Neuheiten; diese werden überwiegend von Teenies in aller Welt gekauft, also der Generation „Fridays for Future“. Mit wechselnden Moden hat die Fast Fashion nur sehr bedingt zu tun. Es geht vor allem um Konsumanreize. Stores und Medien brauchen schließlich immer neue Impulse.
Berauschung durch Betäubung
Keine Frage, es ist ein großer Gewinn, dass Dank des industriellen Fortschritts „Mode für Millionen“ möglich geworden ist. So entwarf Karl Lagerfeld von 1987 bis 1995 auch Mode für Klaus Steilmann, dem Gründer der Stiftung, die den European Fashion Award FASH auslobt.
Doch die Demokratisierung der Mode hat sich als ein Überkonsum für alle herausgestellt. Der Journalist Gert Scobel analysiert: „In Wirklichkeit handelt es sich nicht um echten Luxus, sondern um seine Simulierung [… die] leer läuft und immer schneller durch neuen Konsum angeregt werden muss.“
Letzlich wirkt der Überkonsum von Mode und Instagram wie eine Narkose. Sie betäubt Langeweile, mangelndes Selbstbewusstsein und oft wohl auch eine unbewusste religiöse Sehnsucht und Orientierungssuche.
Mit etwas Abstand erkennt man schnell, dass der heutige westliche Konsumlevel, den viele für normal halten, ein Ausnahmezustand in der Geschichte ist. Es gibt kein Menschenrecht auf grenzenlosen Konsum. Zumal dies auf Kosten der Umwelt, der Arbeiterinnen und der kommenden Generationen geschieht.
Wie konnte es soweit kommen?
Ein wesentlicher Auslöser des ungeheuren Aufstiegs der Fast Fashion ist das Auslaufen jedweder Handelsbeschränkungen mit dem Fall des Welttextilabkommens (WTO) zum Ende 2004. 1974 waren die Importquoten zum Schutz von Arbeitsplätzen im Westen vor Billigimporten eingeführt worden. Die Abschaffung und Öffnung der Märkte war in Zeiten des Neoliberalismus von der Politik gewollt. Die globale Beschaffung wurde in der Folge neu kalibriert. Die Preise sanken stark. Allein 5 bis 10 Prozent entfielen durch den Wegfall der Kosten für die Quoten. Ganze Länder, wie in Afrika, verloren ihre Textilindustrie. Die Exporte stiegen schon 2005 so stark, dass China auf Druck der EU die Exporte freiwillig begrenzte. Seit der Handel nicht mehr durch Quoten begrenzt wurde, legten die Fast Fashion Anbieter und Textil-Discounter ein ungeheures Wachstum an den Tag.
Brandbeschleuniger
Das Aufkommen des Onlinehandels von Amazon bis Zalando und vor allem der inzwischen fast zum Standard gewordenen kostenlosen Retouren führte zu Rücksendequoten für Mode von bis zu 60 Prozent. „Schrei vor Glück – oder schick‘s zurück“ – auch dies verstärkte den Modekonsum maßgeblich.
Zeitgleich stieg Instagram in kürzester Zeit zum heute dominanten Mode-Medium auf und wirkt wie ein zusätzlicher Brandbeschleuniger. Laut einer Studie des Netzwerks LTK tätigen 42 Prozent der „Gen Z“ den Großteil ihrer Einkäufe über Soziale Medien wie Instagram oder TikTok. Die Folge der billigen Preise und ständig neuen Konsumanreize: Millionen kaufen zu viel Kleidung, zu oft und meist viel zu unüberlegt.
Die Kraft des Irrationalen
Warum kaufen wir soviel? Wir wissen es wohl selber nicht. Und wollen nicht darüber nachdenken. Marktforscher Ralph Ohnemus erklärt die mangelnde Konsequenz mit Hinweis auf den Nobelpreisträger Daniel Kahnemann so: „Wir sind faul und wollen nicht zu viel denken.“ Statt bewusst zu konsumieren, folgen wir einfach unseren Emotionen. Denn beim logischen Denken braucht unser Gehirn viel Energie.
Schon das Luxurieren der Natur – etwa beim Pfau – legt nahe, dass das Streben nach Differenz zur Evolution gehört und dass die Lust an der Verschwendung in der Triebstruktur wurzelt. Und so war ein zur Schau gestellter Konsum schon immer eine Demonstration von Macht. Gerade auf Instagram erhalten laute Inszenierungen Aufmerksamkeit und erhöhen so das „symbolische Kapital“.
Gegen diese Kraft des Irrationalen kommen die Argumente der Vernunft kaum an. Seit der Antike blieben alle Aufrufe zur Askese weitgehend erfolglos.
Statt einen tatsächlichen Bedarf zu stillen, ermöglicht es unser Wohlstand in Verbindung mit billiger Fast Fashion, dass wir heute vielfach nur noch kaufen „um unsere Stimmung zu modulieren“, wie Carl Tillessen in seinem Bestseller „Konsum“ schreibt. Ob aus Langeweile, als Belohnung oder zum Trost.
Der wirksame Weg
Der wirksamste Weg ist denkbar einfach: Kleidungsstücke deutlich länger zu tragen. Auch Secondhand-Kleidung ist eine Möglichkeit, sich ressourcenschonend einzukleiden und weiterhin Spaß an Mode zu haben. Das Geschäft mit Secondhand-Mode boomt. Doch die Gleichung von Secondhand und Nachhaltigkeit geht nur auf, wenn insgesamt nicht mehr Kleidung konsumiert wird. Denn die niedrigen Preise und das gute Gewissen verleiten schnell zu noch mehr Konsum, , dem sogenannten Rebound oder Bumerang-Effekt.
Europa Rekord
Wieviele Altkleider es in Deutschland gibt, ist unklar, da keine genauen Daten erfasst werden. Nach Berechnungen des Bundesverband Sekundärrohstoffe und Entsorgung (BVSE) bringen rund 85 Prozent der Deutschen ihre Altkleider zum Sammelcontainer: ein Rekord in Europa. So werden hierzulande pro Jahr knapp 1,3 Million Tonnen Altkleider in etwa 120.000 Containern gesammelt. Somit landen fast drei Viertel aller ungewollten Kleider bei Textilverwertern.
ZDF Dokumentation von 2018 über das Werk Bitterfeld-Wolfen des Textilrecyclers „Soex“ © Soex
Allein beim Marktführer Soex in Bitterfeld-Wolfen können jedes Jahr bis zu 100.000 Tonnen sortiert werden. Davon sind 10 Prozent neuwertig und werden in deutschen Secondhand Läden verkauft. Weitere 45 Prozent werden als Secondhand-Kleidung in mehr als 45 Ländern exportiert. 15 Prozent werden zu Putzlappen für die Industrie, 20 Prozent werden in der Reisserei in genau definierten Qualitäten zu Rohstoffen für Autohimmel, Isolier- und Füllstoffen, Malervlies oder für Kleiderbügel verarbeitet. Und die letzten 10 Prozent gelten als Abfall, von dem noch 3 Prozent an die Pappenindustrie verkauft werden. Die restlichen 7 Prozent müssen gegen Gebühr fachgerecht verbrannt werden. Allerdings verschieben sich die Anteile. Jedes Jahr landen mehr Textilien im Reisswolf oder der Verbrennungsanlage.
Wir haben keine Lösungen
Jahrzehntelang war das Geschäft mit Altkleidern so einträglich wie einfach gewesen. Die Verwerter wie Soex kauften Kommunen und karitativen Organisationen die gesammelten Altkleider ab, sortierten sie und exportierten das Gros als Secondhandware nach Osteuropa, in den Nahen Osten sowie Afrika. Die Nachfrage war viel höher als das Angebot.
Doch seit 2015 ist dieser Markt im Umbruch. Mehr Fast Fashion in den Sammlungen bedeutet eine deutlich schlechtere Qualität, so die BVSE-Studie von 2015. Da die Sortierer das Recycling der untragbaren Kleidung mit den Erlösen der hochwertigen Secondhandkleidung finanzieren, entstand eine prekäre Situation. Was gut ist für die Umwelt, verschärft die Krise der Textilsortierer.
Die einstige Spitzenware in den Sammlungen wird heute meist direkt von Privat an Privat über Internetplattformen oder über Online-Shops für Vintage-Mode verkauft. Dieses Geschäft wächst laut Global Data 21-mal so schnell wie die gesamte Modeindustrie auf prognostizierte 54 Milliarden Euro im Jahr 2024. Die Verbraucherpreise steigen stark, so dass schon von einer „Gentrifizierung von Secondhandmode“ gesprochen wird. Zugleich wehren sich viele afrikanische Länder zunehmend gegen den Import von Secondhandware. Zudem wird dort Kleidung aus China oft billiger verkauft als europäische Secondhand-Ware, auch wegen stark unterschiedlicher Zollgebühren.
Es quellen nicht nur die Kleiderschränke der Konsumenten über. Auch die Lagerhallen von Industrie und Handel sind mit überschüssiger Neuware und Retouren voll. Die Absatzmärkte sind hingegen übersättigt. Laut dem Spitzenverband Euratex gibt es keinen Plan, wohin wir in Europa mit künftig mehr als 5 Millionen Tonnen Altkleidern sollen. Diese Menge dürfte nochmals um geschätzte zwei Millionen Tonnen pro Jahr steigen, wenn ab dem 1. Januar 2025 das EU-Abfallrecht die getrennte Sammlung von Textilien vorschreibt. Dafür gibt es aktuell in Europa keine ausreichenden Sortier- und Verwertungskapazitäten. Zumal die EU ab 2023 den Export von Textilabfällen in Nicht-OECD-Länder verbieten will.
Es sind mehrere sich verstärkende Teufelskreise entstanden, aus denen es keinen Ausweg zu geben scheint. Sie sind für die Mode in ökologischer und sozialer Hinsicht so verheerend, dass die ersten Experten schon Bekleidungskontingente für jeden Bürger ins Gespräch bringen. Es ist wie in Goethes Zauberlehrling: Was als Segen anfing, wurde zur Ausgeburt der Hölle: „Die ich rief, die Geister, werd ich nun nicht los.“
Durch die Pandemie, Social Media und Games, Diskussionen über Diversität und Gender sowie neue Kunstformen und die US-Popkultur aber auch durch die Digitalisierung und Nachhaltigkeit befinden sich Werte und damit die Ästhetik in einem so starken Wandel, wie wohl seit den 1960er Jahren nicht mehr. Das gibt die Chance für eine ganz neue Mode. Und damit für neue Wertstoffketten.
Zum Teil II Optionen: Besser als das Gleiche in Grün
Joachim Schirrmacher
Nach seiner Lehre zum Einzelhandelskaufmann studierte er Designmanagement mit Schwerpunkten wie Ökologie oder Gender. Seit 1994 beschäftigt er sich in seiner Arbeit mit Nachhaltiger Mode. Er arbeitet seit über 20 Jahren als Autor (Chefredakteur Style in Progress, Tagesspiegel, NZZ), Sprecher (Copenhagen Business School, Goethe-Institut, HDS/L) und Kommunikationsexperte für Unternehmen wie Carroux Caffee, Freitag Lab AG, Messe München oder Retail Brand Services sowie Institutionen wie dem Auswärtigen Amt. Seit 2004 verantwortet er pro bono den European Fashion Award FASH der SDBI.DE www.schirrmacher.org
Über nachhaltige und faire Mode wird seit Jahrzehnten intensiv diskutiert. Alle reden von Kreislaufwirtschaft, und viele Modeunternehmen haben Sustainability-Projekte angekündigt. Doch die Realität ist mehr als ernüchternd. Nun will die Europäische Kommission mit einer umfangreichen Textilstrategie die Mode zur Nachhaltigkeit verpflichten.
Eine Analyse von Joachim Schirrmacher
Zum Teil II Optionen: Besser als das Gleiche in Grün
85 Prozent aller Unternehmen sehen Nachhaltigkeit als Unternehmensstrategie. Das liegt neben allem persönlichen Engagement von Frauen wie Antje von Dewitz und Männern wie Michael Otto auch daran, dass inzwischen fast alle größeren Modeunternehmen im Besitz von Investoren oder Aktiengesellschaften sind. Vieles ist daher ein Ankündigungsmarketing, das sich an die Öffentlichkeit richtet und die Shareholder abholen soll. Zumeist werden Vorzeigeprojekte in kleinen Stückzahlen aufgelegt. Das Kerngeschäft ändert sich hingegen kaum.
Circular Economy statt Recycling?
Besonders beliebt ist das Werben für eine Kreislaufwirtschaft mit Slogans wie „Recyceln Sie Mode“. Aus alt wird neu, ein perfektes Perpetuum Mobile: Regen fällt, fließt durch die Obstwiese und in einen Fluss, weiter ins Meer, verdunstet in den Himmel und fällt wieder. Nur zu gerne wollen wir es glauben.
Damit die Modeindustrie nicht nur redet will die Europäische Kommission sie jetzt zur Nachhaltigkeit verpflichten. Sie sagt damit der Fast Fashion und Überproduktion sowie dem Greenwashing den Kampf an. Ende März hat sie dazu eine umfangreiche und ehrgeizige „EU-Strategie für nachhaltige und kreislauffähige Textilien“ (EU-Textilstrategie) vorgestellt.
Bis 2030 sollen in der EU auf den Markt gebrachte Textilien langlebig und kreislauffähig gestaltet und unter Wahrung der sozialen Rechte und des Umweltschutzes hergestellt sein. Sie sollen dabei größtenteils aus Recyclingfasern bestehen und frei von umweltschädlichen Schadstoffen und Mikroplastik sein. Zudem soll die Kreislaufwirtschaft in der Mode florieren und über ausreichende Kapazitäten für ein Faser-zu-Faser-Recycling verfügen. Hersteller müssen künftig die Verantwortung für ihre Produkte vom Design bis zur Entsorgung übernehmen.
Von Null auf Hundert
Die Ziele sind extrem ehrgeizig, denn bislang ist die „Circular Economy“ in der Mode nur Vision. Einen echten Kreislauf, in dem Altkleider zu neuen Textilien werden, gibt es bisher nicht. Neben Secondhandkleidung ist das Recycling von Altkleidern, die nicht mehr getragen werden können, derzeit die einzige Lösung. Doch dieses Recycling ist eine Abwärtsspirale, kein Kreislauf. Jeans werden bestenfalls zu Viskosegarnen, die meisten Textilien jedoch zu Putzlappen für die Industrie, Vlies- und Isolierstoffen oder Pappe. Immerhin ein Fortschritt zum linearen Modell, bei dem die Alttextilien direkt in der Verbrennung oder auf einer Deponie landeten.
Viele andere Projekte sind Scheinlösungen. So stammt recyceltes Polyester in Kleidung von PET-Flaschen und nicht aus Polyesterkleidung aus dem Altkleider-Container. Daher muss für die Flaschenproduktion auch neues Polyester verwendet werden. Die EU-Kommission sieht dies als Irreführung der Verbraucher und als Verstoß gegen den geschlossenen Kreislauf für PET- Lebensmittelflaschen.
Und so sinnvoll ein Upcycling, also aus älteren Teilen neue Kleidung zu nähen, im privaten Bereich, für Kleinserien und vor allem für einen Bewusstseinswandel ist, bietet es keine industrielle Perspektive.
Biobasierte Garne aus Algen, Ananas- oder Bananenschalen, Blüten, CO2 oder Milch, Lebensmittelreste zum Färben von Textilien oder das biologisch abbaubare Stretchgarn Coreva stecken noch in den Kinderschuhen.
Die EU-Kommission ruft daher die Unternehmen auf, ihre Bemühungen auf das Faser-zu-Faser-Recycling zu konzentrieren. Derzeit liegt der Anteil unter einem Prozent, so die Ellen-MacArthur-Stiftung. Es gilt also eine „Lücke“ von 99 Prozent in nur acht Jahren zu schließen. Bislang gibt es nur wenige Forschungs- und Pilotprojekte. Und diese sind noch ganz am Anfang mit minimalen Produktionsmengen, die angekündigt wurden. Zu den wichtigsten Projekten zählen:
– Prozesssichere Materialerkennung (verschiedene Ansätze wie Chips circularity.ID)
– Optimiertes mechanisches Recycling mit längeren Fasern
– Chemisches Trennen von Polyester/Baumwolle (Re:wind, Resyntex mit I Collect und Soex, Uni Wien, Worn Again Technologies)
– Chemische Umwandlung von Baumwolle zu Viskose (Evrnu, re:newcell, Saxion, SaXcell, Södra, Lenzing)
– Trennung von Baumwoll/Elasthan (Re:Mix)
Keine Frage: Dies sind wichtige Fortschritte, und es gibt große Hoffnungen, dass aus dem Faser-zu-Faser-Recycling ein gigantisches Geschäft wird. Doch die Herausforderungen sind noch enorm: Der Energieaufwand z.B. für das Säubern und Entfärben ist sehr hoch. Der Mix verschiedener Polyesterarten ist problematisch. Elasthan oder Chemikalien in den Alttextilien beeinträchtigen den Prozess. Beispielsweise verstopfen sie die Düsen der Spinnmaschinen. Recyclingfasern sind zudem teurer als Primärrohstoffe.
Wo liegt das Problem?
Auf absehbare Zeit findet daher ein Recycling von Fasern zu neuen Kleidern, aufgrund technologischer Grenzen wie der Faserlänge, im großindustriellen Maßstab praktisch nicht statt. Eine Übersicht von 2021 zum Stand der Recycling-Technik der RWTH Aachen kommt sogar zu dem ernüchternden Fazit: „Recycling wird die Nachhaltigkeitsprobleme in der Textil-Industrie nicht lösen.“
Das Versprechen der Bioökonomie bzw. des Green Deal, wir könnten dank des technologischen Fortschritts mit reinem Gewissen so weiterleben wie bisher, erscheint also als Illusion.
Dabei geht es um unfassbare Mengen. Seit dem Jahr 2000 hat sich laut der Ellen-MacArthur-Stiftung der Konsum von Kleidung verdoppelt und die Tragezeit zudem halbiert. Da die Preise für Mode in der EU zwischen 1996 und 2018 inflationsbereinigt laut der EU-Textilstrategie um über 30 Prozent gesunken sind, sind Mengen aussagekräftiger als Umsätze, um sich die Dimensionen vor Augen zu führen.
Pro Jahr werden schätzungsweise statt einst 50 jetzt etwa 120 Milliarden Kleidungsstücke weltweit hergestellt. Greenpeace spricht sogar von rund 200 Milliarden. Davon sollen laut der Ellen MacArthur Stiftung 40 Prozent nicht verkauft worden sein.
Vom Gebrauch zum Verbrauch
In Deutschland wurden davon 2018 laut Statista ca. 4,7 Milliarden Kleidungsstücke verkauft, das sind im Durchschnitt 56 Teile für jeden – vom Baby bis zum Greis. Und das Produktionsvolumen von Kleidungsstücken steigt weiter jährlich um 2,7 Prozent an.
Frauen kaufen deutlich mehr Mode wie Männer: Laut einer Studie der Hochschule Macromedia von 2021 besitzen Frauen im Schnitt 175 und Männer 105,4 Kleidungstücke. Etwa ein Drittel davon wurde in den letzten 12 Monaten gekauft.
Kleidung wird laut der Initiative der Bundesregierung „Grüner Knopf“ im Schnitt viermal getragen, vieles gar nicht. So stehen drei Lieblingsteilen drei sogenannte Schrankleichen gegenüber.
Der Gebrauch wurde zu einem rapiden Verbrauch von Kleidung. Und das nicht nur in Deutschland, Europa oder den USA. Mit dem Anwachsen der Weltbevölkerung bis 2030 auf mehr als 8,5 Milliarden Menschen und steigendem Haushaltseinkommen auch in China, Indien oder Brasilien.
Überfluss bis zum Überdruß
Fast Fashion, also preisgünstige Kleidung oft minderer Qualität, gilt als Hauptverursacher des Überangebots an Mode. Zara brachte als eines der ersten Unternehmen alle zwei Wochen neue Modelle auf den Markt, statt ein- oder zweimal pro Saison. Wer keine Marktanteile verlieren wollte, musste mitziehen. Die Fast Fashion war geboren und wurde als „Demokratisierung der Mode“ gefeiert. Signalwirkung hatte 2004 die Kollektion „Karl Lagerfeld by H&M“. Einige Unternehmen produzieren gar bis zu 52 Kollektionen im Jahr. Oft in Qualitäten, die selbst für eine Weiterverwendung als Putzlappen zu schlecht sind. Anbieter wie Shein aus China bieten täglich Neuheiten; diese werden überwiegend von Teenies in aller Welt gekauft, also der Generation „Fridays for Future“. Mit wechselnden Moden hat die Fast Fashion nur sehr bedingt zu tun. Es geht vor allem um Konsumanreize. Stores und Medien brauchen schließlich immer neue Impulse.
Berauschung durch Betäubung
Keine Frage, es ist ein großer Gewinn, dass Dank des industriellen Fortschritts „Mode für Millionen“ möglich geworden ist. So entwarf Karl Lagerfeld von 1987 bis 1995 auch Mode für Klaus Steilmann, dem Gründer der Stiftung, die den European Fashion Award FASH auslobt.
Doch die Demokratisierung der Mode hat sich als ein Überkonsum für alle herausgestellt. Der Journalist Gert Scobel analysiert: „In Wirklichkeit handelt es sich nicht um echten Luxus, sondern um seine Simulierung [… die] leer läuft und immer schneller durch neuen Konsum angeregt werden muss.“
Letzlich wirkt der Überkonsum von Mode und Instagram wie eine Narkose. Sie betäubt Langeweile, mangelndes Selbstbewusstsein und oft wohl auch eine unbewusste religiöse Sehnsucht und Orientierungssuche.
Mit etwas Abstand erkennt man schnell, dass der heutige westliche Konsumlevel, den viele für normal halten, ein Ausnahmezustand in der Geschichte ist. Es gibt kein Menschenrecht auf grenzenlosen Konsum. Zumal dies auf Kosten der Umwelt, der Arbeiterinnen und der kommenden Generationen geschieht.
Wie konnte es soweit kommen?
Ein wesentlicher Auslöser des ungeheuren Aufstiegs der Fast Fashion ist das Auslaufen jedweder Handelsbeschränkungen mit dem Fall des Welttextilabkommens (WTO) zum Ende 2004. 1974 waren die Importquoten zum Schutz von Arbeitsplätzen im Westen vor Billigimporten eingeführt worden. Die Abschaffung und Öffnung der Märkte war in Zeiten des Neoliberalismus von der Politik gewollt. Die globale Beschaffung wurde in der Folge neu kalibriert. Die Preise sanken stark. Allein 5 bis 10 Prozent entfielen durch den Wegfall der Kosten für die Quoten. Ganze Länder, wie in Afrika, verloren ihre Textilindustrie. Die Exporte stiegen schon 2005 so stark, dass China auf Druck der EU die Exporte freiwillig begrenzte. Seit der Handel nicht mehr durch Quoten begrenzt wurde, legten die Fast Fashion Anbieter und Textil-Discounter ein ungeheures Wachstum an den Tag.
Brandbeschleuniger
Das Aufkommen des Onlinehandels von Amazon bis Zalando und vor allem der inzwischen fast zum Standard gewordenen kostenlosen Retouren führte zu Rücksendequoten für Mode von bis zu 60 Prozent. „Schrei vor Glück – oder schick‘s zurück“ – auch dies verstärkte den Modekonsum maßgeblich.
Zeitgleich stieg Instagram in kürzester Zeit zum heute dominanten Mode-Medium auf und wirkt wie ein zusätzlicher Brandbeschleuniger. Laut einer Studie des Netzwerks LTK tätigen 42 Prozent der „Gen Z“ den Großteil ihrer Einkäufe über Soziale Medien wie Instagram oder TikTok. Die Folge der billigen Preise und ständig neuen Konsumanreize: Millionen kaufen zu viel Kleidung, zu oft und meist viel zu unüberlegt.
Die Kraft des Irrationalen
Warum kaufen wir soviel? Wir wissen es wohl selber nicht. Und wollen nicht darüber nachdenken. Marktforscher Ralph Ohnemus erklärt die mangelnde Konsequenz mit Hinweis auf den Nobelpreisträger Daniel Kahnemann so: „Wir sind faul und wollen nicht zu viel denken.“ Statt bewusst zu konsumieren, folgen wir einfach unseren Emotionen. Denn beim logischen Denken braucht unser Gehirn viel Energie.
Schon das Luxurieren der Natur – etwa beim Pfau – legt nahe, dass das Streben nach Differenz zur Evolution gehört und dass die Lust an der Verschwendung in der Triebstruktur wurzelt. Und so war ein zur Schau gestellter Konsum schon immer eine Demonstration von Macht. Gerade auf Instagram erhalten laute Inszenierungen Aufmerksamkeit und erhöhen so das „symbolische Kapital“.
Gegen diese Kraft des Irrationalen kommen die Argumente der Vernunft kaum an. Seit der Antike blieben alle Aufrufe zur Askese weitgehend erfolglos.
Statt einen tatsächlichen Bedarf zu stillen, ermöglicht es unser Wohlstand in Verbindung mit billiger Fast Fashion, dass wir heute vielfach nur noch kaufen „um unsere Stimmung zu modulieren“, wie Carl Tillessen in seinem Bestseller „Konsum“ schreibt. Ob aus Langeweile, als Belohnung oder zum Trost.
Der wirksame Weg
Der wirksamste Weg ist denkbar einfach: Kleidungsstücke deutlich länger zu tragen. Auch Secondhand-Kleidung ist eine Möglichkeit, sich ressourcenschonend einzukleiden und weiterhin Spaß an Mode zu haben. Das Geschäft mit Secondhand-Mode boomt. Doch die Gleichung von Secondhand und Nachhaltigkeit geht nur auf, wenn insgesamt nicht mehr Kleidung konsumiert wird. Denn die niedrigen Preise und das gute Gewissen verleiten schnell zu noch mehr Konsum, , dem sogenannten Rebound oder Bumerang-Effekt.
Europa Rekord
Wieviele Altkleider es in Deutschland gibt, ist unklar, da keine genauen Daten erfasst werden. Nach Berechnungen des Bundesverband Sekundärrohstoffe und Entsorgung (BVSE) bringen rund 85 Prozent der Deutschen ihre Altkleider zum Sammelcontainer: ein Rekord in Europa. So werden hierzulande pro Jahr knapp 1,3 Million Tonnen Altkleider in etwa 120.000 Containern gesammelt. Somit landen fast drei Viertel aller ungewollten Kleider bei Textilverwertern.
ZDF Dokumentation von 2018 über das Werk Bitterfeld-Wolfen des Textilrecyclers „Soex“ © Soex
Allein beim Marktführer Soex in Bitterfeld-Wolfen können jedes Jahr bis zu 100.000 Tonnen sortiert werden. Davon sind 10 Prozent neuwertig und werden in deutschen Secondhand Läden verkauft. Weitere 45 Prozent werden als Secondhand-Kleidung in mehr als 45 Ländern exportiert. 15 Prozent werden zu Putzlappen für die Industrie, 20 Prozent werden in der Reisserei in genau definierten Qualitäten zu Rohstoffen für Autohimmel, Isolier- und Füllstoffen, Malervlies oder für Kleiderbügel verarbeitet. Und die letzten 10 Prozent gelten als Abfall, von dem noch 3 Prozent an die Pappenindustrie verkauft werden. Die restlichen 7 Prozent müssen gegen Gebühr fachgerecht verbrannt werden. Allerdings verschieben sich die Anteile. Jedes Jahr landen mehr Textilien im Reisswolf oder der Verbrennungsanlage.
Wir haben keine Lösungen
Jahrzehntelang war das Geschäft mit Altkleidern so einträglich wie einfach gewesen. Die Verwerter wie Soex kauften Kommunen und karitativen Organisationen die gesammelten Altkleider ab, sortierten sie und exportierten das Gros als Secondhandware nach Osteuropa, in den Nahen Osten sowie Afrika. Die Nachfrage war viel höher als das Angebot.
Doch seit 2015 ist dieser Markt im Umbruch. Mehr Fast Fashion in den Sammlungen bedeutet eine deutlich schlechtere Qualität, so die BVSE-Studie von 2015. Da die Sortierer das Recycling der untragbaren Kleidung mit den Erlösen der hochwertigen Secondhandkleidung finanzieren, entstand eine prekäre Situation. Was gut ist für die Umwelt, verschärft die Krise der Textilsortierer.
Die einstige Spitzenware in den Sammlungen wird heute meist direkt von Privat an Privat über Internetplattformen oder über Online-Shops für Vintage-Mode verkauft. Dieses Geschäft wächst laut Global Data 21-mal so schnell wie die gesamte Modeindustrie auf prognostizierte 54 Milliarden Euro im Jahr 2024. Die Verbraucherpreise steigen stark, so dass schon von einer „Gentrifizierung von Secondhandmode“ gesprochen wird. Zugleich wehren sich viele afrikanische Länder zunehmend gegen den Import von Secondhandware. Zudem wird dort Kleidung aus China oft billiger verkauft als europäische Secondhand-Ware, auch wegen stark unterschiedlicher Zollgebühren.
Es quellen nicht nur die Kleiderschränke der Konsumenten über. Auch die Lagerhallen von Industrie und Handel sind mit überschüssiger Neuware und Retouren voll. Die Absatzmärkte sind hingegen übersättigt. Laut dem Spitzenverband Euratex gibt es keinen Plan, wohin wir in Europa mit künftig mehr als 5 Millionen Tonnen Altkleidern sollen. Diese Menge dürfte nochmals um geschätzte zwei Millionen Tonnen pro Jahr steigen, wenn ab dem 1. Januar 2025 das EU-Abfallrecht die getrennte Sammlung von Textilien vorschreibt. Dafür gibt es aktuell in Europa keine ausreichenden Sortier- und Verwertungskapazitäten. Zumal die EU ab 2023 den Export von Textilabfällen in Nicht-OECD-Länder verbieten will.
Es sind mehrere sich verstärkende Teufelskreise entstanden, aus denen es keinen Ausweg zu geben scheint. Sie sind für die Mode in ökologischer und sozialer Hinsicht so verheerend, dass die ersten Experten schon Bekleidungskontingente für jeden Bürger ins Gespräch bringen. Es ist wie in Goethes Zauberlehrling: Was als Segen anfing, wurde zur Ausgeburt der Hölle: „Die ich rief, die Geister, werd ich nun nicht los.“
Durch die Pandemie, Social Media und Games, Diskussionen über Diversität und Gender sowie neue Kunstformen und die US-Popkultur aber auch durch die Digitalisierung und Nachhaltigkeit befinden sich Werte und damit die Ästhetik in einem so starken Wandel, wie wohl seit den 1960er Jahren nicht mehr. Das gibt die Chance für eine ganz neue Mode. Und damit für neue Wertstoffketten.
Zum Teil II Optionen: Besser als das Gleiche in Grün
Joachim Schirrmacher
Nach seiner Lehre zum Einzelhandelskaufmann studierte er Designmanagement mit Schwerpunkten wie Ökologie oder Gender. Seit 1994 beschäftigt er sich in seiner Arbeit mit Nachhaltiger Mode. Er arbeitet seit über 20 Jahren als Autor (Chefredakteur Style in Progress, Tagesspiegel, NZZ), Sprecher (Copenhagen Business School, Goethe-Institut, HDS/L) und Kommunikationsexperte für Unternehmen wie Carroux Caffee, Freitag Lab AG, Messe München oder Retail Brand Services sowie Institutionen wie dem Auswärtigen Amt. Seit 2004 verantwortet er pro bono den European Fashion Award FASH der SDBI.DE www.schirrmacher.org
Über nachhaltige und faire Mode wird seit Jahrzehnten intensiv diskutiert. Alle reden von Kreislaufwirtschaft, und viele Modeunternehmen haben Sustainability-Projekte angekündigt. Doch die Realität ist mehr als ernüchternd. Nun will die Europäische Kommission mit einer umfangreichen Textilstrategie die Mode zur Nachhaltigkeit verpflichten.
Eine Analyse von Joachim Schirrmacher
Zum Teil II Optionen: Besser als das Gleiche in Grün
85 Prozent aller Unternehmen sehen Nachhaltigkeit als Unternehmensstrategie. Das liegt neben allem persönlichen Engagement von Frauen wie Antje von Dewitz und Männern wie Michael Otto auch daran, dass inzwischen fast alle größeren Modeunternehmen im Besitz von Investoren oder Aktiengesellschaften sind. Vieles ist daher ein Ankündigungsmarketing, das sich an die Öffentlichkeit richtet und die Shareholder abholen soll. Zumeist werden Vorzeigeprojekte in kleinen Stückzahlen aufgelegt. Das Kerngeschäft ändert sich hingegen kaum.
Circular Economy statt Recycling?
Besonders beliebt ist das Werben für eine Kreislaufwirtschaft mit Slogans wie „Recyceln Sie Mode“. Aus alt wird neu, ein perfektes Perpetuum Mobile: Regen fällt, fließt durch die Obstwiese und in einen Fluss, weiter ins Meer, verdunstet in den Himmel und fällt wieder. Nur zu gerne wollen wir es glauben.
Damit die Modeindustrie nicht nur redet will die Europäische Kommission sie jetzt zur Nachhaltigkeit verpflichten. Sie sagt damit der Fast Fashion und Überproduktion sowie dem Greenwashing den Kampf an. Ende März hat sie dazu eine umfangreiche und ehrgeizige „EU-Strategie für nachhaltige und kreislauffähige Textilien“ (EU-Textilstrategie) vorgestellt.
Bis 2030 sollen in der EU auf den Markt gebrachte Textilien langlebig und kreislauffähig gestaltet und unter Wahrung der sozialen Rechte und des Umweltschutzes hergestellt sein. Sie sollen dabei größtenteils aus Recyclingfasern bestehen und frei von umweltschädlichen Schadstoffen und Mikroplastik sein. Zudem soll die Kreislaufwirtschaft in der Mode florieren und über ausreichende Kapazitäten für ein Faser-zu-Faser-Recycling verfügen. Hersteller müssen künftig die Verantwortung für ihre Produkte vom Design bis zur Entsorgung übernehmen.
Von Null auf Hundert
Die Ziele sind extrem ehrgeizig, denn bislang ist die „Circular Economy“ in der Mode nur Vision. Einen echten Kreislauf, in dem Altkleider zu neuen Textilien werden, gibt es bisher nicht. Neben Secondhandkleidung ist das Recycling von Altkleidern, die nicht mehr getragen werden können, derzeit die einzige Lösung. Doch dieses Recycling ist eine Abwärtsspirale, kein Kreislauf. Jeans werden bestenfalls zu Viskosegarnen, die meisten Textilien jedoch zu Putzlappen für die Industrie, Vlies- und Isolierstoffen oder Pappe. Immerhin ein Fortschritt zum linearen Modell, bei dem die Alttextilien direkt in der Verbrennung oder auf einer Deponie landeten.
Viele andere Projekte sind Scheinlösungen. So stammt recyceltes Polyester in Kleidung von PET-Flaschen und nicht aus Polyesterkleidung aus dem Altkleider-Container. Daher muss für die Flaschenproduktion auch neues Polyester verwendet werden. Die EU-Kommission sieht dies als Irreführung der Verbraucher und als Verstoß gegen den geschlossenen Kreislauf für PET- Lebensmittelflaschen.
Und so sinnvoll ein Upcycling, also aus älteren Teilen neue Kleidung zu nähen, im privaten Bereich, für Kleinserien und vor allem für einen Bewusstseinswandel ist, bietet es keine industrielle Perspektive.
Biobasierte Garne aus Algen, Ananas- oder Bananenschalen, Blüten, CO2 oder Milch, Lebensmittelreste zum Färben von Textilien oder das biologisch abbaubare Stretchgarn Coreva stecken noch in den Kinderschuhen.
Die EU-Kommission ruft daher die Unternehmen auf, ihre Bemühungen auf das Faser-zu-Faser-Recycling zu konzentrieren. Derzeit liegt der Anteil unter einem Prozent, so die Ellen-MacArthur-Stiftung. Es gilt also eine „Lücke“ von 99 Prozent in nur acht Jahren zu schließen. Bislang gibt es nur wenige Forschungs- und Pilotprojekte. Und diese sind noch ganz am Anfang mit minimalen Produktionsmengen, die angekündigt wurden. Zu den wichtigsten Projekten zählen:
– Prozesssichere Materialerkennung (verschiedene Ansätze wie Chips circularity.ID)
– Optimiertes mechanisches Recycling mit längeren Fasern
– Chemisches Trennen von Polyester/Baumwolle (Re:wind, Resyntex mit I Collect und Soex, Uni Wien, Worn Again Technologies)
– Chemische Umwandlung von Baumwolle zu Viskose (Evrnu, re:newcell, Saxion, SaXcell, Södra, Lenzing)
– Trennung von Baumwoll/Elasthan (Re:Mix)
Keine Frage: Dies sind wichtige Fortschritte, und es gibt große Hoffnungen, dass aus dem Faser-zu-Faser-Recycling ein gigantisches Geschäft wird. Doch die Herausforderungen sind noch enorm: Der Energieaufwand z.B. für das Säubern und Entfärben ist sehr hoch. Der Mix verschiedener Polyesterarten ist problematisch. Elasthan oder Chemikalien in den Alttextilien beeinträchtigen den Prozess. Beispielsweise verstopfen sie die Düsen der Spinnmaschinen. Recyclingfasern sind zudem teurer als Primärrohstoffe.
Wo liegt das Problem?
Auf absehbare Zeit findet daher ein Recycling von Fasern zu neuen Kleidern, aufgrund technologischer Grenzen wie der Faserlänge, im großindustriellen Maßstab praktisch nicht statt. Eine Übersicht von 2021 zum Stand der Recycling-Technik der RWTH Aachen kommt sogar zu dem ernüchternden Fazit: „Recycling wird die Nachhaltigkeitsprobleme in der Textil-Industrie nicht lösen.“
Das Versprechen der Bioökonomie bzw. des Green Deal, wir könnten dank des technologischen Fortschritts mit reinem Gewissen so weiterleben wie bisher, erscheint also als Illusion.
Dabei geht es um unfassbare Mengen. Seit dem Jahr 2000 hat sich laut der Ellen-MacArthur-Stiftung der Konsum von Kleidung verdoppelt und die Tragezeit zudem halbiert. Da die Preise für Mode in der EU zwischen 1996 und 2018 inflationsbereinigt laut der EU-Textilstrategie um über 30 Prozent gesunken sind, sind Mengen aussagekräftiger als Umsätze, um sich die Dimensionen vor Augen zu führen.
Pro Jahr werden schätzungsweise statt einst 50 jetzt etwa 120 Milliarden Kleidungsstücke weltweit hergestellt. Greenpeace spricht sogar von rund 200 Milliarden. Davon sollen laut der Ellen MacArthur Stiftung 40 Prozent nicht verkauft worden sein.
Vom Gebrauch zum Verbrauch
In Deutschland wurden davon 2018 laut Statista ca. 4,7 Milliarden Kleidungsstücke verkauft, das sind im Durchschnitt 56 Teile für jeden – vom Baby bis zum Greis. Und das Produktionsvolumen von Kleidungsstücken steigt weiter jährlich um 2,7 Prozent an.
Frauen kaufen deutlich mehr Mode wie Männer: Laut einer Studie der Hochschule Macromedia von 2021 besitzen Frauen im Schnitt 175 und Männer 105,4 Kleidungstücke. Etwa ein Drittel davon wurde in den letzten 12 Monaten gekauft.
Kleidung wird laut der Initiative der Bundesregierung „Grüner Knopf“ im Schnitt viermal getragen, vieles gar nicht. So stehen drei Lieblingsteilen drei sogenannte Schrankleichen gegenüber.
Der Gebrauch wurde zu einem rapiden Verbrauch von Kleidung. Und das nicht nur in Deutschland, Europa oder den USA. Mit dem Anwachsen der Weltbevölkerung bis 2030 auf mehr als 8,5 Milliarden Menschen und steigendem Haushaltseinkommen auch in China, Indien oder Brasilien.
Überfluss bis zum Überdruß
Fast Fashion, also preisgünstige Kleidung oft minderer Qualität, gilt als Hauptverursacher des Überangebots an Mode. Zara brachte als eines der ersten Unternehmen alle zwei Wochen neue Modelle auf den Markt, statt ein- oder zweimal pro Saison. Wer keine Marktanteile verlieren wollte, musste mitziehen. Die Fast Fashion war geboren und wurde als „Demokratisierung der Mode“ gefeiert. Signalwirkung hatte 2004 die Kollektion „Karl Lagerfeld by H&M“. Einige Unternehmen produzieren gar bis zu 52 Kollektionen im Jahr. Oft in Qualitäten, die selbst für eine Weiterverwendung als Putzlappen zu schlecht sind. Anbieter wie Shein aus China bieten täglich Neuheiten; diese werden überwiegend von Teenies in aller Welt gekauft, also der Generation „Fridays for Future“. Mit wechselnden Moden hat die Fast Fashion nur sehr bedingt zu tun. Es geht vor allem um Konsumanreize. Stores und Medien brauchen schließlich immer neue Impulse.
Berauschung durch Betäubung
Keine Frage, es ist ein großer Gewinn, dass Dank des industriellen Fortschritts „Mode für Millionen“ möglich geworden ist. So entwarf Karl Lagerfeld von 1987 bis 1995 auch Mode für Klaus Steilmann, dem Gründer der Stiftung, die den European Fashion Award FASH auslobt.
Doch die Demokratisierung der Mode hat sich als ein Überkonsum für alle herausgestellt. Der Journalist Gert Scobel analysiert: „In Wirklichkeit handelt es sich nicht um echten Luxus, sondern um seine Simulierung [… die] leer läuft und immer schneller durch neuen Konsum angeregt werden muss.“
Letzlich wirkt der Überkonsum von Mode und Instagram wie eine Narkose. Sie betäubt Langeweile, mangelndes Selbstbewusstsein und oft wohl auch eine unbewusste religiöse Sehnsucht und Orientierungssuche.
Mit etwas Abstand erkennt man schnell, dass der heutige westliche Konsumlevel, den viele für normal halten, ein Ausnahmezustand in der Geschichte ist. Es gibt kein Menschenrecht auf grenzenlosen Konsum. Zumal dies auf Kosten der Umwelt, der Arbeiterinnen und der kommenden Generationen geschieht.
Wie konnte es soweit kommen?
Ein wesentlicher Auslöser des ungeheuren Aufstiegs der Fast Fashion ist das Auslaufen jedweder Handelsbeschränkungen mit dem Fall des Welttextilabkommens (WTO) zum Ende 2004. 1974 waren die Importquoten zum Schutz von Arbeitsplätzen im Westen vor Billigimporten eingeführt worden. Die Abschaffung und Öffnung der Märkte war in Zeiten des Neoliberalismus von der Politik gewollt. Die globale Beschaffung wurde in der Folge neu kalibriert. Die Preise sanken stark. Allein 5 bis 10 Prozent entfielen durch den Wegfall der Kosten für die Quoten. Ganze Länder, wie in Afrika, verloren ihre Textilindustrie. Die Exporte stiegen schon 2005 so stark, dass China auf Druck der EU die Exporte freiwillig begrenzte. Seit der Handel nicht mehr durch Quoten begrenzt wurde, legten die Fast Fashion Anbieter und Textil-Discounter ein ungeheures Wachstum an den Tag.
Brandbeschleuniger
Das Aufkommen des Onlinehandels von Amazon bis Zalando und vor allem der inzwischen fast zum Standard gewordenen kostenlosen Retouren führte zu Rücksendequoten für Mode von bis zu 60 Prozent. „Schrei vor Glück – oder schick‘s zurück“ – auch dies verstärkte den Modekonsum maßgeblich.
Zeitgleich stieg Instagram in kürzester Zeit zum heute dominanten Mode-Medium auf und wirkt wie ein zusätzlicher Brandbeschleuniger. Laut einer Studie des Netzwerks LTK tätigen 42 Prozent der „Gen Z“ den Großteil ihrer Einkäufe über Soziale Medien wie Instagram oder TikTok. Die Folge der billigen Preise und ständig neuen Konsumanreize: Millionen kaufen zu viel Kleidung, zu oft und meist viel zu unüberlegt.
Die Kraft des Irrationalen
Warum kaufen wir soviel? Wir wissen es wohl selber nicht. Und wollen nicht darüber nachdenken. Marktforscher Ralph Ohnemus erklärt die mangelnde Konsequenz mit Hinweis auf den Nobelpreisträger Daniel Kahnemann so: „Wir sind faul und wollen nicht zu viel denken.“ Statt bewusst zu konsumieren, folgen wir einfach unseren Emotionen. Denn beim logischen Denken braucht unser Gehirn viel Energie.
Schon das Luxurieren der Natur – etwa beim Pfau – legt nahe, dass das Streben nach Differenz zur Evolution gehört und dass die Lust an der Verschwendung in der Triebstruktur wurzelt. Und so war ein zur Schau gestellter Konsum schon immer eine Demonstration von Macht. Gerade auf Instagram erhalten laute Inszenierungen Aufmerksamkeit und erhöhen so das „symbolische Kapital“.
Gegen diese Kraft des Irrationalen kommen die Argumente der Vernunft kaum an. Seit der Antike blieben alle Aufrufe zur Askese weitgehend erfolglos.
Statt einen tatsächlichen Bedarf zu stillen, ermöglicht es unser Wohlstand in Verbindung mit billiger Fast Fashion, dass wir heute vielfach nur noch kaufen „um unsere Stimmung zu modulieren“, wie Carl Tillessen in seinem Bestseller „Konsum“ schreibt. Ob aus Langeweile, als Belohnung oder zum Trost.
Der wirksame Weg
Der wirksamste Weg ist denkbar einfach: Kleidungsstücke deutlich länger zu tragen. Auch Secondhand-Kleidung ist eine Möglichkeit, sich ressourcenschonend einzukleiden und weiterhin Spaß an Mode zu haben. Das Geschäft mit Secondhand-Mode boomt. Doch die Gleichung von Secondhand und Nachhaltigkeit geht nur auf, wenn insgesamt nicht mehr Kleidung konsumiert wird. Denn die niedrigen Preise und das gute Gewissen verleiten schnell zu noch mehr Konsum, , dem sogenannten Rebound oder Bumerang-Effekt.
Europa Rekord
Wieviele Altkleider es in Deutschland gibt, ist unklar, da keine genauen Daten erfasst werden. Nach Berechnungen des Bundesverband Sekundärrohstoffe und Entsorgung (BVSE) bringen rund 85 Prozent der Deutschen ihre Altkleider zum Sammelcontainer: ein Rekord in Europa. So werden hierzulande pro Jahr knapp 1,3 Million Tonnen Altkleider in etwa 120.000 Containern gesammelt. Somit landen fast drei Viertel aller ungewollten Kleider bei Textilverwertern.
ZDF Dokumentation von 2018 über das Werk Bitterfeld-Wolfen des Textilrecyclers „Soex“ © Soex
Allein beim Marktführer Soex in Bitterfeld-Wolfen können jedes Jahr bis zu 100.000 Tonnen sortiert werden. Davon sind 10 Prozent neuwertig und werden in deutschen Secondhand Läden verkauft. Weitere 45 Prozent werden als Secondhand-Kleidung in mehr als 45 Ländern exportiert. 15 Prozent werden zu Putzlappen für die Industrie, 20 Prozent werden in der Reisserei in genau definierten Qualitäten zu Rohstoffen für Autohimmel, Isolier- und Füllstoffen, Malervlies oder für Kleiderbügel verarbeitet. Und die letzten 10 Prozent gelten als Abfall, von dem noch 3 Prozent an die Pappenindustrie verkauft werden. Die restlichen 7 Prozent müssen gegen Gebühr fachgerecht verbrannt werden. Allerdings verschieben sich die Anteile. Jedes Jahr landen mehr Textilien im Reisswolf oder der Verbrennungsanlage.
Wir haben keine Lösungen
Jahrzehntelang war das Geschäft mit Altkleidern so einträglich wie einfach gewesen. Die Verwerter wie Soex kauften Kommunen und karitativen Organisationen die gesammelten Altkleider ab, sortierten sie und exportierten das Gros als Secondhandware nach Osteuropa, in den Nahen Osten sowie Afrika. Die Nachfrage war viel höher als das Angebot.
Doch seit 2015 ist dieser Markt im Umbruch. Mehr Fast Fashion in den Sammlungen bedeutet eine deutlich schlechtere Qualität, so die BVSE-Studie von 2015. Da die Sortierer das Recycling der untragbaren Kleidung mit den Erlösen der hochwertigen Secondhandkleidung finanzieren, entstand eine prekäre Situation. Was gut ist für die Umwelt, verschärft die Krise der Textilsortierer.
Die einstige Spitzenware in den Sammlungen wird heute meist direkt von Privat an Privat über Internetplattformen oder über Online-Shops für Vintage-Mode verkauft. Dieses Geschäft wächst laut Global Data 21-mal so schnell wie die gesamte Modeindustrie auf prognostizierte 54 Milliarden Euro im Jahr 2024. Die Verbraucherpreise steigen stark, so dass schon von einer „Gentrifizierung von Secondhandmode“ gesprochen wird. Zugleich wehren sich viele afrikanische Länder zunehmend gegen den Import von Secondhandware. Zudem wird dort Kleidung aus China oft billiger verkauft als europäische Secondhand-Ware, auch wegen stark unterschiedlicher Zollgebühren.
Es quellen nicht nur die Kleiderschränke der Konsumenten über. Auch die Lagerhallen von Industrie und Handel sind mit überschüssiger Neuware und Retouren voll. Die Absatzmärkte sind hingegen übersättigt. Laut dem Spitzenverband Euratex gibt es keinen Plan, wohin wir in Europa mit künftig mehr als 5 Millionen Tonnen Altkleidern sollen. Diese Menge dürfte nochmals um geschätzte zwei Millionen Tonnen pro Jahr steigen, wenn ab dem 1. Januar 2025 das EU-Abfallrecht die getrennte Sammlung von Textilien vorschreibt. Dafür gibt es aktuell in Europa keine ausreichenden Sortier- und Verwertungskapazitäten. Zumal die EU ab 2023 den Export von Textilabfällen in Nicht-OECD-Länder verbieten will.
Es sind mehrere sich verstärkende Teufelskreise entstanden, aus denen es keinen Ausweg zu geben scheint. Sie sind für die Mode in ökologischer und sozialer Hinsicht so verheerend, dass die ersten Experten schon Bekleidungskontingente für jeden Bürger ins Gespräch bringen. Es ist wie in Goethes Zauberlehrling: Was als Segen anfing, wurde zur Ausgeburt der Hölle: „Die ich rief, die Geister, werd ich nun nicht los.“
Durch die Pandemie, Social Media und Games, Diskussionen über Diversität und Gender sowie neue Kunstformen und die US-Popkultur aber auch durch die Digitalisierung und Nachhaltigkeit befinden sich Werte und damit die Ästhetik in einem so starken Wandel, wie wohl seit den 1960er Jahren nicht mehr. Das gibt die Chance für eine ganz neue Mode. Und damit für neue Wertstoffketten.
Zum Teil II Optionen: Besser als das Gleiche in Grün
Joachim Schirrmacher
Nach seiner Lehre zum Einzelhandelskaufmann studierte er Designmanagement mit Schwerpunkten wie Ökologie oder Gender. Seit 1994 beschäftigt er sich in seiner Arbeit mit Nachhaltiger Mode. Er arbeitet seit über 20 Jahren als Autor (Chefredakteur Style in Progress, Tagesspiegel, NZZ), Sprecher (Copenhagen Business School, Goethe-Institut, HDS/L) und Kommunikationsexperte für Unternehmen wie Carroux Caffee, Freitag Lab AG, Messe München oder Retail Brand Services sowie Institutionen wie dem Auswärtigen Amt. Seit 2004 verantwortet er pro bono den European Fashion Award FASH der SDBI.DE www.schirrmacher.org
Über nachhaltige und faire Mode wird seit Jahrzehnten intensiv diskutiert. Alle reden von Kreislaufwirtschaft, und viele Modeunternehmen haben Sustainability-Projekte angekündigt. Doch die Realität ist mehr als ernüchternd. Nun will die Europäische Kommission mit einer umfangreichen Textilstrategie die Mode zur Nachhaltigkeit verpflichten.
Eine Analyse von Joachim Schirrmacher
Zum Teil II Optionen: Besser als das Gleiche in Grün
85 Prozent aller Unternehmen sehen Nachhaltigkeit als Unternehmensstrategie. Das liegt neben allem persönlichen Engagement von Frauen wie Antje von Dewitz und Männern wie Michael Otto auch daran, dass inzwischen fast alle größeren Modeunternehmen im Besitz von Investoren oder Aktiengesellschaften sind. Vieles ist daher ein Ankündigungsmarketing, das sich an die Öffentlichkeit richtet und die Shareholder abholen soll. Zumeist werden Vorzeigeprojekte in kleinen Stückzahlen aufgelegt. Das Kerngeschäft ändert sich hingegen kaum.
Circular Economy statt Recycling?
Besonders beliebt ist das Werben für eine Kreislaufwirtschaft mit Slogans wie „Recyceln Sie Mode“. Aus alt wird neu, ein perfektes Perpetuum Mobile: Regen fällt, fließt durch die Obstwiese und in einen Fluss, weiter ins Meer, verdunstet in den Himmel und fällt wieder. Nur zu gerne wollen wir es glauben.
Damit die Modeindustrie nicht nur redet will die Europäische Kommission sie jetzt zur Nachhaltigkeit verpflichten. Sie sagt damit der Fast Fashion und Überproduktion sowie dem Greenwashing den Kampf an. Ende März hat sie dazu eine umfangreiche und ehrgeizige „EU-Strategie für nachhaltige und kreislauffähige Textilien“ (EU-Textilstrategie) vorgestellt.
Bis 2030 sollen in der EU auf den Markt gebrachte Textilien langlebig und kreislauffähig gestaltet und unter Wahrung der sozialen Rechte und des Umweltschutzes hergestellt sein. Sie sollen dabei größtenteils aus Recyclingfasern bestehen und frei von umweltschädlichen Schadstoffen und Mikroplastik sein. Zudem soll die Kreislaufwirtschaft in der Mode florieren und über ausreichende Kapazitäten für ein Faser-zu-Faser-Recycling verfügen. Hersteller müssen künftig die Verantwortung für ihre Produkte vom Design bis zur Entsorgung übernehmen.
Von Null auf Hundert
Die Ziele sind extrem ehrgeizig, denn bislang ist die „Circular Economy“ in der Mode nur Vision. Einen echten Kreislauf, in dem Altkleider zu neuen Textilien werden, gibt es bisher nicht. Neben Secondhandkleidung ist das Recycling von Altkleidern, die nicht mehr getragen werden können, derzeit die einzige Lösung. Doch dieses Recycling ist eine Abwärtsspirale, kein Kreislauf. Jeans werden bestenfalls zu Viskosegarnen, die meisten Textilien jedoch zu Putzlappen für die Industrie, Vlies- und Isolierstoffen oder Pappe. Immerhin ein Fortschritt zum linearen Modell, bei dem die Alttextilien direkt in der Verbrennung oder auf einer Deponie landeten.
Viele andere Projekte sind Scheinlösungen. So stammt recyceltes Polyester in Kleidung von PET-Flaschen und nicht aus Polyesterkleidung aus dem Altkleider-Container. Daher muss für die Flaschenproduktion auch neues Polyester verwendet werden. Die EU-Kommission sieht dies als Irreführung der Verbraucher und als Verstoß gegen den geschlossenen Kreislauf für PET- Lebensmittelflaschen.
Und so sinnvoll ein Upcycling, also aus älteren Teilen neue Kleidung zu nähen, im privaten Bereich, für Kleinserien und vor allem für einen Bewusstseinswandel ist, bietet es keine industrielle Perspektive.
Biobasierte Garne aus Algen, Ananas- oder Bananenschalen, Blüten, CO2 oder Milch, Lebensmittelreste zum Färben von Textilien oder das biologisch abbaubare Stretchgarn Coreva stecken noch in den Kinderschuhen.
Die EU-Kommission ruft daher die Unternehmen auf, ihre Bemühungen auf das Faser-zu-Faser-Recycling zu konzentrieren. Derzeit liegt der Anteil unter einem Prozent, so die Ellen-MacArthur-Stiftung. Es gilt also eine „Lücke“ von 99 Prozent in nur acht Jahren zu schließen. Bislang gibt es nur wenige Forschungs- und Pilotprojekte. Und diese sind noch ganz am Anfang mit minimalen Produktionsmengen, die angekündigt wurden. Zu den wichtigsten Projekten zählen:
– Prozesssichere Materialerkennung (verschiedene Ansätze wie Chips circularity.ID)
– Optimiertes mechanisches Recycling mit längeren Fasern
– Chemisches Trennen von Polyester/Baumwolle (Re:wind, Resyntex mit I Collect und Soex, Uni Wien, Worn Again Technologies)
– Chemische Umwandlung von Baumwolle zu Viskose (Evrnu, re:newcell, Saxion, SaXcell, Södra, Lenzing)
– Trennung von Baumwoll/Elasthan (Re:Mix)
Keine Frage: Dies sind wichtige Fortschritte, und es gibt große Hoffnungen, dass aus dem Faser-zu-Faser-Recycling ein gigantisches Geschäft wird. Doch die Herausforderungen sind noch enorm: Der Energieaufwand z.B. für das Säubern und Entfärben ist sehr hoch. Der Mix verschiedener Polyesterarten ist problematisch. Elasthan oder Chemikalien in den Alttextilien beeinträchtigen den Prozess. Beispielsweise verstopfen sie die Düsen der Spinnmaschinen. Recyclingfasern sind zudem teurer als Primärrohstoffe.
Wo liegt das Problem?
Auf absehbare Zeit findet daher ein Recycling von Fasern zu neuen Kleidern, aufgrund technologischer Grenzen wie der Faserlänge, im großindustriellen Maßstab praktisch nicht statt. Eine Übersicht von 2021 zum Stand der Recycling-Technik der RWTH Aachen kommt sogar zu dem ernüchternden Fazit: „Recycling wird die Nachhaltigkeitsprobleme in der Textil-Industrie nicht lösen.“
Das Versprechen der Bioökonomie bzw. des Green Deal, wir könnten dank des technologischen Fortschritts mit reinem Gewissen so weiterleben wie bisher, erscheint also als Illusion.
Dabei geht es um unfassbare Mengen. Seit dem Jahr 2000 hat sich laut der Ellen-MacArthur-Stiftung der Konsum von Kleidung verdoppelt und die Tragezeit zudem halbiert. Da die Preise für Mode in der EU zwischen 1996 und 2018 inflationsbereinigt laut der EU-Textilstrategie um über 30 Prozent gesunken sind, sind Mengen aussagekräftiger als Umsätze, um sich die Dimensionen vor Augen zu führen.
Pro Jahr werden schätzungsweise statt einst 50 jetzt etwa 120 Milliarden Kleidungsstücke weltweit hergestellt. Greenpeace spricht sogar von rund 200 Milliarden. Davon sollen laut der Ellen MacArthur Stiftung 40 Prozent nicht verkauft worden sein.
Vom Gebrauch zum Verbrauch
In Deutschland wurden davon 2018 laut Statista ca. 4,7 Milliarden Kleidungsstücke verkauft, das sind im Durchschnitt 56 Teile für jeden – vom Baby bis zum Greis. Und das Produktionsvolumen von Kleidungsstücken steigt weiter jährlich um 2,7 Prozent an.
Frauen kaufen deutlich mehr Mode wie Männer: Laut einer Studie der Hochschule Macromedia von 2021 besitzen Frauen im Schnitt 175 und Männer 105,4 Kleidungstücke. Etwa ein Drittel davon wurde in den letzten 12 Monaten gekauft.
Kleidung wird laut der Initiative der Bundesregierung „Grüner Knopf“ im Schnitt viermal getragen, vieles gar nicht. So stehen drei Lieblingsteilen drei sogenannte Schrankleichen gegenüber.
Der Gebrauch wurde zu einem rapiden Verbrauch von Kleidung. Und das nicht nur in Deutschland, Europa oder den USA. Mit dem Anwachsen der Weltbevölkerung bis 2030 auf mehr als 8,5 Milliarden Menschen und steigendem Haushaltseinkommen auch in China, Indien oder Brasilien.
Überfluss bis zum Überdruß
Fast Fashion, also preisgünstige Kleidung oft minderer Qualität, gilt als Hauptverursacher des Überangebots an Mode. Zara brachte als eines der ersten Unternehmen alle zwei Wochen neue Modelle auf den Markt, statt ein- oder zweimal pro Saison. Wer keine Marktanteile verlieren wollte, musste mitziehen. Die Fast Fashion war geboren und wurde als „Demokratisierung der Mode“ gefeiert. Signalwirkung hatte 2004 die Kollektion „Karl Lagerfeld by H&M“. Einige Unternehmen produzieren gar bis zu 52 Kollektionen im Jahr. Oft in Qualitäten, die selbst für eine Weiterverwendung als Putzlappen zu schlecht sind. Anbieter wie Shein aus China bieten täglich Neuheiten; diese werden überwiegend von Teenies in aller Welt gekauft, also der Generation „Fridays for Future“. Mit wechselnden Moden hat die Fast Fashion nur sehr bedingt zu tun. Es geht vor allem um Konsumanreize. Stores und Medien brauchen schließlich immer neue Impulse.
Berauschung durch Betäubung
Keine Frage, es ist ein großer Gewinn, dass Dank des industriellen Fortschritts „Mode für Millionen“ möglich geworden ist. So entwarf Karl Lagerfeld von 1987 bis 1995 auch Mode für Klaus Steilmann, dem Gründer der Stiftung, die den European Fashion Award FASH auslobt.
Doch die Demokratisierung der Mode hat sich als ein Überkonsum für alle herausgestellt. Der Journalist Gert Scobel analysiert: „In Wirklichkeit handelt es sich nicht um echten Luxus, sondern um seine Simulierung [… die] leer läuft und immer schneller durch neuen Konsum angeregt werden muss.“
Letzlich wirkt der Überkonsum von Mode und Instagram wie eine Narkose. Sie betäubt Langeweile, mangelndes Selbstbewusstsein und oft wohl auch eine unbewusste religiöse Sehnsucht und Orientierungssuche.
Mit etwas Abstand erkennt man schnell, dass der heutige westliche Konsumlevel, den viele für normal halten, ein Ausnahmezustand in der Geschichte ist. Es gibt kein Menschenrecht auf grenzenlosen Konsum. Zumal dies auf Kosten der Umwelt, der Arbeiterinnen und der kommenden Generationen geschieht.
Wie konnte es soweit kommen?
Ein wesentlicher Auslöser des ungeheuren Aufstiegs der Fast Fashion ist das Auslaufen jedweder Handelsbeschränkungen mit dem Fall des Welttextilabkommens (WTO) zum Ende 2004. 1974 waren die Importquoten zum Schutz von Arbeitsplätzen im Westen vor Billigimporten eingeführt worden. Die Abschaffung und Öffnung der Märkte war in Zeiten des Neoliberalismus von der Politik gewollt. Die globale Beschaffung wurde in der Folge neu kalibriert. Die Preise sanken stark. Allein 5 bis 10 Prozent entfielen durch den Wegfall der Kosten für die Quoten. Ganze Länder, wie in Afrika, verloren ihre Textilindustrie. Die Exporte stiegen schon 2005 so stark, dass China auf Druck der EU die Exporte freiwillig begrenzte. Seit der Handel nicht mehr durch Quoten begrenzt wurde, legten die Fast Fashion Anbieter und Textil-Discounter ein ungeheures Wachstum an den Tag.
Brandbeschleuniger
Das Aufkommen des Onlinehandels von Amazon bis Zalando und vor allem der inzwischen fast zum Standard gewordenen kostenlosen Retouren führte zu Rücksendequoten für Mode von bis zu 60 Prozent. „Schrei vor Glück – oder schick‘s zurück“ – auch dies verstärkte den Modekonsum maßgeblich.
Zeitgleich stieg Instagram in kürzester Zeit zum heute dominanten Mode-Medium auf und wirkt wie ein zusätzlicher Brandbeschleuniger. Laut einer Studie des Netzwerks LTK tätigen 42 Prozent der „Gen Z“ den Großteil ihrer Einkäufe über Soziale Medien wie Instagram oder TikTok. Die Folge der billigen Preise und ständig neuen Konsumanreize: Millionen kaufen zu viel Kleidung, zu oft und meist viel zu unüberlegt.
Die Kraft des Irrationalen
Warum kaufen wir soviel? Wir wissen es wohl selber nicht. Und wollen nicht darüber nachdenken. Marktforscher Ralph Ohnemus erklärt die mangelnde Konsequenz mit Hinweis auf den Nobelpreisträger Daniel Kahnemann so: „Wir sind faul und wollen nicht zu viel denken.“ Statt bewusst zu konsumieren, folgen wir einfach unseren Emotionen. Denn beim logischen Denken braucht unser Gehirn viel Energie.
Schon das Luxurieren der Natur – etwa beim Pfau – legt nahe, dass das Streben nach Differenz zur Evolution gehört und dass die Lust an der Verschwendung in der Triebstruktur wurzelt. Und so war ein zur Schau gestellter Konsum schon immer eine Demonstration von Macht. Gerade auf Instagram erhalten laute Inszenierungen Aufmerksamkeit und erhöhen so das „symbolische Kapital“.
Gegen diese Kraft des Irrationalen kommen die Argumente der Vernunft kaum an. Seit der Antike blieben alle Aufrufe zur Askese weitgehend erfolglos.
Statt einen tatsächlichen Bedarf zu stillen, ermöglicht es unser Wohlstand in Verbindung mit billiger Fast Fashion, dass wir heute vielfach nur noch kaufen „um unsere Stimmung zu modulieren“, wie Carl Tillessen in seinem Bestseller „Konsum“ schreibt. Ob aus Langeweile, als Belohnung oder zum Trost.
Der wirksame Weg
Der wirksamste Weg ist denkbar einfach: Kleidungsstücke deutlich länger zu tragen. Auch Secondhand-Kleidung ist eine Möglichkeit, sich ressourcenschonend einzukleiden und weiterhin Spaß an Mode zu haben. Das Geschäft mit Secondhand-Mode boomt. Doch die Gleichung von Secondhand und Nachhaltigkeit geht nur auf, wenn insgesamt nicht mehr Kleidung konsumiert wird. Denn die niedrigen Preise und das gute Gewissen verleiten schnell zu noch mehr Konsum, , dem sogenannten Rebound oder Bumerang-Effekt.
Europa Rekord
Wieviele Altkleider es in Deutschland gibt, ist unklar, da keine genauen Daten erfasst werden. Nach Berechnungen des Bundesverband Sekundärrohstoffe und Entsorgung (BVSE) bringen rund 85 Prozent der Deutschen ihre Altkleider zum Sammelcontainer: ein Rekord in Europa. So werden hierzulande pro Jahr knapp 1,3 Million Tonnen Altkleider in etwa 120.000 Containern gesammelt. Somit landen fast drei Viertel aller ungewollten Kleider bei Textilverwertern.
ZDF Dokumentation von 2018 über das Werk Bitterfeld-Wolfen des Textilrecyclers „Soex“ © Soex
Allein beim Marktführer Soex in Bitterfeld-Wolfen können jedes Jahr bis zu 100.000 Tonnen sortiert werden. Davon sind 10 Prozent neuwertig und werden in deutschen Secondhand Läden verkauft. Weitere 45 Prozent werden als Secondhand-Kleidung in mehr als 45 Ländern exportiert. 15 Prozent werden zu Putzlappen für die Industrie, 20 Prozent werden in der Reisserei in genau definierten Qualitäten zu Rohstoffen für Autohimmel, Isolier- und Füllstoffen, Malervlies oder für Kleiderbügel verarbeitet. Und die letzten 10 Prozent gelten als Abfall, von dem noch 3 Prozent an die Pappenindustrie verkauft werden. Die restlichen 7 Prozent müssen gegen Gebühr fachgerecht verbrannt werden. Allerdings verschieben sich die Anteile. Jedes Jahr landen mehr Textilien im Reisswolf oder der Verbrennungsanlage.
Wir haben keine Lösungen
Jahrzehntelang war das Geschäft mit Altkleidern so einträglich wie einfach gewesen. Die Verwerter wie Soex kauften Kommunen und karitativen Organisationen die gesammelten Altkleider ab, sortierten sie und exportierten das Gros als Secondhandware nach Osteuropa, in den Nahen Osten sowie Afrika. Die Nachfrage war viel höher als das Angebot.
Doch seit 2015 ist dieser Markt im Umbruch. Mehr Fast Fashion in den Sammlungen bedeutet eine deutlich schlechtere Qualität, so die BVSE-Studie von 2015. Da die Sortierer das Recycling der untragbaren Kleidung mit den Erlösen der hochwertigen Secondhandkleidung finanzieren, entstand eine prekäre Situation. Was gut ist für die Umwelt, verschärft die Krise der Textilsortierer.
Die einstige Spitzenware in den Sammlungen wird heute meist direkt von Privat an Privat über Internetplattformen oder über Online-Shops für Vintage-Mode verkauft. Dieses Geschäft wächst laut Global Data 21-mal so schnell wie die gesamte Modeindustrie auf prognostizierte 54 Milliarden Euro im Jahr 2024. Die Verbraucherpreise steigen stark, so dass schon von einer „Gentrifizierung von Secondhandmode“ gesprochen wird. Zugleich wehren sich viele afrikanische Länder zunehmend gegen den Import von Secondhandware. Zudem wird dort Kleidung aus China oft billiger verkauft als europäische Secondhand-Ware, auch wegen stark unterschiedlicher Zollgebühren.
Es quellen nicht nur die Kleiderschränke der Konsumenten über. Auch die Lagerhallen von Industrie und Handel sind mit überschüssiger Neuware und Retouren voll. Die Absatzmärkte sind hingegen übersättigt. Laut dem Spitzenverband Euratex gibt es keinen Plan, wohin wir in Europa mit künftig mehr als 5 Millionen Tonnen Altkleidern sollen. Diese Menge dürfte nochmals um geschätzte zwei Millionen Tonnen pro Jahr steigen, wenn ab dem 1. Januar 2025 das EU-Abfallrecht die getrennte Sammlung von Textilien vorschreibt. Dafür gibt es aktuell in Europa keine ausreichenden Sortier- und Verwertungskapazitäten. Zumal die EU ab 2023 den Export von Textilabfällen in Nicht-OECD-Länder verbieten will.
Es sind mehrere sich verstärkende Teufelskreise entstanden, aus denen es keinen Ausweg zu geben scheint. Sie sind für die Mode in ökologischer und sozialer Hinsicht so verheerend, dass die ersten Experten schon Bekleidungskontingente für jeden Bürger ins Gespräch bringen. Es ist wie in Goethes Zauberlehrling: Was als Segen anfing, wurde zur Ausgeburt der Hölle: „Die ich rief, die Geister, werd ich nun nicht los.“
Durch die Pandemie, Social Media und Games, Diskussionen über Diversität und Gender sowie neue Kunstformen und die US-Popkultur aber auch durch die Digitalisierung und Nachhaltigkeit befinden sich Werte und damit die Ästhetik in einem so starken Wandel, wie wohl seit den 1960er Jahren nicht mehr. Das gibt die Chance für eine ganz neue Mode. Und damit für neue Wertstoffketten.
Zum Teil II Optionen: Besser als das Gleiche in Grün
Joachim Schirrmacher
Nach seiner Lehre zum Einzelhandelskaufmann studierte er Designmanagement mit Schwerpunkten wie Ökologie oder Gender. Seit 1994 beschäftigt er sich in seiner Arbeit mit Nachhaltiger Mode. Er arbeitet seit über 20 Jahren als Autor (Chefredakteur Style in Progress, Tagesspiegel, NZZ), Sprecher (Copenhagen Business School, Goethe-Institut, HDS/L) und Kommunikationsexperte für Unternehmen wie Carroux Caffee, Freitag Lab AG, Messe München oder Retail Brand Services sowie Institutionen wie dem Auswärtigen Amt. Seit 2004 verantwortet er pro bono den European Fashion Award FASH der SDBI.DE www.schirrmacher.org
Über nachhaltige und faire Mode wird seit Jahrzehnten intensiv diskutiert. Alle reden von Kreislaufwirtschaft, und viele Modeunternehmen haben Sustainability-Projekte angekündigt. Doch die Realität ist mehr als ernüchternd. Nun will die Europäische Kommission mit einer umfangreichen Textilstrategie die Mode zur Nachhaltigkeit verpflichten.
Eine Analyse von Joachim Schirrmacher
Zum Teil II Optionen: Besser als das Gleiche in Grün
85 Prozent aller Unternehmen sehen Nachhaltigkeit als Unternehmensstrategie. Das liegt neben allem persönlichen Engagement von Frauen wie Antje von Dewitz und Männern wie Michael Otto auch daran, dass inzwischen fast alle größeren Modeunternehmen im Besitz von Investoren oder Aktiengesellschaften sind. Vieles ist daher ein Ankündigungsmarketing, das sich an die Öffentlichkeit richtet und die Shareholder abholen soll. Zumeist werden Vorzeigeprojekte in kleinen Stückzahlen aufgelegt. Das Kerngeschäft ändert sich hingegen kaum.
Circular Economy statt Recycling?
Besonders beliebt ist das Werben für eine Kreislaufwirtschaft mit Slogans wie „Recyceln Sie Mode“. Aus alt wird neu, ein perfektes Perpetuum Mobile: Regen fällt, fließt durch die Obstwiese und in einen Fluss, weiter ins Meer, verdunstet in den Himmel und fällt wieder. Nur zu gerne wollen wir es glauben.
Damit die Modeindustrie nicht nur redet will die Europäische Kommission sie jetzt zur Nachhaltigkeit verpflichten. Sie sagt damit der Fast Fashion und Überproduktion sowie dem Greenwashing den Kampf an. Ende März hat sie dazu eine umfangreiche und ehrgeizige „EU-Strategie für nachhaltige und kreislauffähige Textilien“ (EU-Textilstrategie) vorgestellt.
Bis 2030 sollen in der EU auf den Markt gebrachte Textilien langlebig und kreislauffähig gestaltet und unter Wahrung der sozialen Rechte und des Umweltschutzes hergestellt sein. Sie sollen dabei größtenteils aus Recyclingfasern bestehen und frei von umweltschädlichen Schadstoffen und Mikroplastik sein. Zudem soll die Kreislaufwirtschaft in der Mode florieren und über ausreichende Kapazitäten für ein Faser-zu-Faser-Recycling verfügen. Hersteller müssen künftig die Verantwortung für ihre Produkte vom Design bis zur Entsorgung übernehmen.
Von Null auf Hundert
Die Ziele sind extrem ehrgeizig, denn bislang ist die „Circular Economy“ in der Mode nur Vision. Einen echten Kreislauf, in dem Altkleider zu neuen Textilien werden, gibt es bisher nicht. Neben Secondhandkleidung ist das Recycling von Altkleidern, die nicht mehr getragen werden können, derzeit die einzige Lösung. Doch dieses Recycling ist eine Abwärtsspirale, kein Kreislauf. Jeans werden bestenfalls zu Viskosegarnen, die meisten Textilien jedoch zu Putzlappen für die Industrie, Vlies- und Isolierstoffen oder Pappe. Immerhin ein Fortschritt zum linearen Modell, bei dem die Alttextilien direkt in der Verbrennung oder auf einer Deponie landeten.
Viele andere Projekte sind Scheinlösungen. So stammt recyceltes Polyester in Kleidung von PET-Flaschen und nicht aus Polyesterkleidung aus dem Altkleider-Container. Daher muss für die Flaschenproduktion auch neues Polyester verwendet werden. Die EU-Kommission sieht dies als Irreführung der Verbraucher und als Verstoß gegen den geschlossenen Kreislauf für PET- Lebensmittelflaschen.
Und so sinnvoll ein Upcycling, also aus älteren Teilen neue Kleidung zu nähen, im privaten Bereich, für Kleinserien und vor allem für einen Bewusstseinswandel ist, bietet es keine industrielle Perspektive.
Biobasierte Garne aus Algen, Ananas- oder Bananenschalen, Blüten, CO2 oder Milch, Lebensmittelreste zum Färben von Textilien oder das biologisch abbaubare Stretchgarn Coreva stecken noch in den Kinderschuhen.
Die EU-Kommission ruft daher die Unternehmen auf, ihre Bemühungen auf das Faser-zu-Faser-Recycling zu konzentrieren. Derzeit liegt der Anteil unter einem Prozent, so die Ellen-MacArthur-Stiftung. Es gilt also eine „Lücke“ von 99 Prozent in nur acht Jahren zu schließen. Bislang gibt es nur wenige Forschungs- und Pilotprojekte. Und diese sind noch ganz am Anfang mit minimalen Produktionsmengen, die angekündigt wurden. Zu den wichtigsten Projekten zählen:
– Prozesssichere Materialerkennung (verschiedene Ansätze wie Chips circularity.ID)
– Optimiertes mechanisches Recycling mit längeren Fasern
– Chemisches Trennen von Polyester/Baumwolle (Re:wind, Resyntex mit I Collect und Soex, Uni Wien, Worn Again Technologies)
– Chemische Umwandlung von Baumwolle zu Viskose (Evrnu, re:newcell, Saxion, SaXcell, Södra, Lenzing)
– Trennung von Baumwoll/Elasthan (Re:Mix)
Keine Frage: Dies sind wichtige Fortschritte, und es gibt große Hoffnungen, dass aus dem Faser-zu-Faser-Recycling ein gigantisches Geschäft wird. Doch die Herausforderungen sind noch enorm: Der Energieaufwand z.B. für das Säubern und Entfärben ist sehr hoch. Der Mix verschiedener Polyesterarten ist problematisch. Elasthan oder Chemikalien in den Alttextilien beeinträchtigen den Prozess. Beispielsweise verstopfen sie die Düsen der Spinnmaschinen. Recyclingfasern sind zudem teurer als Primärrohstoffe.
Wo liegt das Problem?
Auf absehbare Zeit findet daher ein Recycling von Fasern zu neuen Kleidern, aufgrund technologischer Grenzen wie der Faserlänge, im großindustriellen Maßstab praktisch nicht statt. Eine Übersicht von 2021 zum Stand der Recycling-Technik der RWTH Aachen kommt sogar zu dem ernüchternden Fazit: „Recycling wird die Nachhaltigkeitsprobleme in der Textil-Industrie nicht lösen.“
Das Versprechen der Bioökonomie bzw. des Green Deal, wir könnten dank des technologischen Fortschritts mit reinem Gewissen so weiterleben wie bisher, erscheint also als Illusion.
Dabei geht es um unfassbare Mengen. Seit dem Jahr 2000 hat sich laut der Ellen-MacArthur-Stiftung der Konsum von Kleidung verdoppelt und die Tragezeit zudem halbiert. Da die Preise für Mode in der EU zwischen 1996 und 2018 inflationsbereinigt laut der EU-Textilstrategie um über 30 Prozent gesunken sind, sind Mengen aussagekräftiger als Umsätze, um sich die Dimensionen vor Augen zu führen.
Pro Jahr werden schätzungsweise statt einst 50 jetzt etwa 120 Milliarden Kleidungsstücke weltweit hergestellt. Greenpeace spricht sogar von rund 200 Milliarden. Davon sollen laut der Ellen MacArthur Stiftung 40 Prozent nicht verkauft worden sein.
Vom Gebrauch zum Verbrauch
In Deutschland wurden davon 2018 laut Statista ca. 4,7 Milliarden Kleidungsstücke verkauft, das sind im Durchschnitt 56 Teile für jeden – vom Baby bis zum Greis. Und das Produktionsvolumen von Kleidungsstücken steigt weiter jährlich um 2,7 Prozent an.
Frauen kaufen deutlich mehr Mode wie Männer: Laut einer Studie der Hochschule Macromedia von 2021 besitzen Frauen im Schnitt 175 und Männer 105,4 Kleidungstücke. Etwa ein Drittel davon wurde in den letzten 12 Monaten gekauft.
Kleidung wird laut der Initiative der Bundesregierung „Grüner Knopf“ im Schnitt viermal getragen, vieles gar nicht. So stehen drei Lieblingsteilen drei sogenannte Schrankleichen gegenüber.
Der Gebrauch wurde zu einem rapiden Verbrauch von Kleidung. Und das nicht nur in Deutschland, Europa oder den USA. Mit dem Anwachsen der Weltbevölkerung bis 2030 auf mehr als 8,5 Milliarden Menschen und steigendem Haushaltseinkommen auch in China, Indien oder Brasilien.
Überfluss bis zum Überdruß
Fast Fashion, also preisgünstige Kleidung oft minderer Qualität, gilt als Hauptverursacher des Überangebots an Mode. Zara brachte als eines der ersten Unternehmen alle zwei Wochen neue Modelle auf den Markt, statt ein- oder zweimal pro Saison. Wer keine Marktanteile verlieren wollte, musste mitziehen. Die Fast Fashion war geboren und wurde als „Demokratisierung der Mode“ gefeiert. Signalwirkung hatte 2004 die Kollektion „Karl Lagerfeld by H&M“. Einige Unternehmen produzieren gar bis zu 52 Kollektionen im Jahr. Oft in Qualitäten, die selbst für eine Weiterverwendung als Putzlappen zu schlecht sind. Anbieter wie Shein aus China bieten täglich Neuheiten; diese werden überwiegend von Teenies in aller Welt gekauft, also der Generation „Fridays for Future“. Mit wechselnden Moden hat die Fast Fashion nur sehr bedingt zu tun. Es geht vor allem um Konsumanreize. Stores und Medien brauchen schließlich immer neue Impulse.
Berauschung durch Betäubung
Keine Frage, es ist ein großer Gewinn, dass Dank des industriellen Fortschritts „Mode für Millionen“ möglich geworden ist. So entwarf Karl Lagerfeld von 1987 bis 1995 auch Mode für Klaus Steilmann, dem Gründer der Stiftung, die den European Fashion Award FASH auslobt.
Doch die Demokratisierung der Mode hat sich als ein Überkonsum für alle herausgestellt. Der Journalist Gert Scobel analysiert: „In Wirklichkeit handelt es sich nicht um echten Luxus, sondern um seine Simulierung [… die] leer läuft und immer schneller durch neuen Konsum angeregt werden muss.“
Letzlich wirkt der Überkonsum von Mode und Instagram wie eine Narkose. Sie betäubt Langeweile, mangelndes Selbstbewusstsein und oft wohl auch eine unbewusste religiöse Sehnsucht und Orientierungssuche.
Mit etwas Abstand erkennt man schnell, dass der heutige westliche Konsumlevel, den viele für normal halten, ein Ausnahmezustand in der Geschichte ist. Es gibt kein Menschenrecht auf grenzenlosen Konsum. Zumal dies auf Kosten der Umwelt, der Arbeiterinnen und der kommenden Generationen geschieht.
Wie konnte es soweit kommen?
Ein wesentlicher Auslöser des ungeheuren Aufstiegs der Fast Fashion ist das Auslaufen jedweder Handelsbeschränkungen mit dem Fall des Welttextilabkommens (WTO) zum Ende 2004. 1974 waren die Importquoten zum Schutz von Arbeitsplätzen im Westen vor Billigimporten eingeführt worden. Die Abschaffung und Öffnung der Märkte war in Zeiten des Neoliberalismus von der Politik gewollt. Die globale Beschaffung wurde in der Folge neu kalibriert. Die Preise sanken stark. Allein 5 bis 10 Prozent entfielen durch den Wegfall der Kosten für die Quoten. Ganze Länder, wie in Afrika, verloren ihre Textilindustrie. Die Exporte stiegen schon 2005 so stark, dass China auf Druck der EU die Exporte freiwillig begrenzte. Seit der Handel nicht mehr durch Quoten begrenzt wurde, legten die Fast Fashion Anbieter und Textil-Discounter ein ungeheures Wachstum an den Tag.
Brandbeschleuniger
Das Aufkommen des Onlinehandels von Amazon bis Zalando und vor allem der inzwischen fast zum Standard gewordenen kostenlosen Retouren führte zu Rücksendequoten für Mode von bis zu 60 Prozent. „Schrei vor Glück – oder schick‘s zurück“ – auch dies verstärkte den Modekonsum maßgeblich.
Zeitgleich stieg Instagram in kürzester Zeit zum heute dominanten Mode-Medium auf und wirkt wie ein zusätzlicher Brandbeschleuniger. Laut einer Studie des Netzwerks LTK tätigen 42 Prozent der „Gen Z“ den Großteil ihrer Einkäufe über Soziale Medien wie Instagram oder TikTok. Die Folge der billigen Preise und ständig neuen Konsumanreize: Millionen kaufen zu viel Kleidung, zu oft und meist viel zu unüberlegt.
Die Kraft des Irrationalen
Warum kaufen wir soviel? Wir wissen es wohl selber nicht. Und wollen nicht darüber nachdenken. Marktforscher Ralph Ohnemus erklärt die mangelnde Konsequenz mit Hinweis auf den Nobelpreisträger Daniel Kahnemann so: „Wir sind faul und wollen nicht zu viel denken.“ Statt bewusst zu konsumieren, folgen wir einfach unseren Emotionen. Denn beim logischen Denken braucht unser Gehirn viel Energie.
Schon das Luxurieren der Natur – etwa beim Pfau – legt nahe, dass das Streben nach Differenz zur Evolution gehört und dass die Lust an der Verschwendung in der Triebstruktur wurzelt. Und so war ein zur Schau gestellter Konsum schon immer eine Demonstration von Macht. Gerade auf Instagram erhalten laute Inszenierungen Aufmerksamkeit und erhöhen so das „symbolische Kapital“.
Gegen diese Kraft des Irrationalen kommen die Argumente der Vernunft kaum an. Seit der Antike blieben alle Aufrufe zur Askese weitgehend erfolglos.
Statt einen tatsächlichen Bedarf zu stillen, ermöglicht es unser Wohlstand in Verbindung mit billiger Fast Fashion, dass wir heute vielfach nur noch kaufen „um unsere Stimmung zu modulieren“, wie Carl Tillessen in seinem Bestseller „Konsum“ schreibt. Ob aus Langeweile, als Belohnung oder zum Trost.
Der wirksame Weg
Der wirksamste Weg ist denkbar einfach: Kleidungsstücke deutlich länger zu tragen. Auch Secondhand-Kleidung ist eine Möglichkeit, sich ressourcenschonend einzukleiden und weiterhin Spaß an Mode zu haben. Das Geschäft mit Secondhand-Mode boomt. Doch die Gleichung von Secondhand und Nachhaltigkeit geht nur auf, wenn insgesamt nicht mehr Kleidung konsumiert wird. Denn die niedrigen Preise und das gute Gewissen verleiten schnell zu noch mehr Konsum, , dem sogenannten Rebound oder Bumerang-Effekt.
Europa Rekord
Wieviele Altkleider es in Deutschland gibt, ist unklar, da keine genauen Daten erfasst werden. Nach Berechnungen des Bundesverband Sekundärrohstoffe und Entsorgung (BVSE) bringen rund 85 Prozent der Deutschen ihre Altkleider zum Sammelcontainer: ein Rekord in Europa. So werden hierzulande pro Jahr knapp 1,3 Million Tonnen Altkleider in etwa 120.000 Containern gesammelt. Somit landen fast drei Viertel aller ungewollten Kleider bei Textilverwertern.
ZDF Dokumentation von 2018 über das Werk Bitterfeld-Wolfen des Textilrecyclers „Soex“ © Soex
Allein beim Marktführer Soex in Bitterfeld-Wolfen können jedes Jahr bis zu 100.000 Tonnen sortiert werden. Davon sind 10 Prozent neuwertig und werden in deutschen Secondhand Läden verkauft. Weitere 45 Prozent werden als Secondhand-Kleidung in mehr als 45 Ländern exportiert. 15 Prozent werden zu Putzlappen für die Industrie, 20 Prozent werden in der Reisserei in genau definierten Qualitäten zu Rohstoffen für Autohimmel, Isolier- und Füllstoffen, Malervlies oder für Kleiderbügel verarbeitet. Und die letzten 10 Prozent gelten als Abfall, von dem noch 3 Prozent an die Pappenindustrie verkauft werden. Die restlichen 7 Prozent müssen gegen Gebühr fachgerecht verbrannt werden. Allerdings verschieben sich die Anteile. Jedes Jahr landen mehr Textilien im Reisswolf oder der Verbrennungsanlage.
Wir haben keine Lösungen
Jahrzehntelang war das Geschäft mit Altkleidern so einträglich wie einfach gewesen. Die Verwerter wie Soex kauften Kommunen und karitativen Organisationen die gesammelten Altkleider ab, sortierten sie und exportierten das Gros als Secondhandware nach Osteuropa, in den Nahen Osten sowie Afrika. Die Nachfrage war viel höher als das Angebot.
Doch seit 2015 ist dieser Markt im Umbruch. Mehr Fast Fashion in den Sammlungen bedeutet eine deutlich schlechtere Qualität, so die BVSE-Studie von 2015. Da die Sortierer das Recycling der untragbaren Kleidung mit den Erlösen der hochwertigen Secondhandkleidung finanzieren, entstand eine prekäre Situation. Was gut ist für die Umwelt, verschärft die Krise der Textilsortierer.
Die einstige Spitzenware in den Sammlungen wird heute meist direkt von Privat an Privat über Internetplattformen oder über Online-Shops für Vintage-Mode verkauft. Dieses Geschäft wächst laut Global Data 21-mal so schnell wie die gesamte Modeindustrie auf prognostizierte 54 Milliarden Euro im Jahr 2024. Die Verbraucherpreise steigen stark, so dass schon von einer „Gentrifizierung von Secondhandmode“ gesprochen wird. Zugleich wehren sich viele afrikanische Länder zunehmend gegen den Import von Secondhandware. Zudem wird dort Kleidung aus China oft billiger verkauft als europäische Secondhand-Ware, auch wegen stark unterschiedlicher Zollgebühren.
Es quellen nicht nur die Kleiderschränke der Konsumenten über. Auch die Lagerhallen von Industrie und Handel sind mit überschüssiger Neuware und Retouren voll. Die Absatzmärkte sind hingegen übersättigt. Laut dem Spitzenverband Euratex gibt es keinen Plan, wohin wir in Europa mit künftig mehr als 5 Millionen Tonnen Altkleidern sollen. Diese Menge dürfte nochmals um geschätzte zwei Millionen Tonnen pro Jahr steigen, wenn ab dem 1. Januar 2025 das EU-Abfallrecht die getrennte Sammlung von Textilien vorschreibt. Dafür gibt es aktuell in Europa keine ausreichenden Sortier- und Verwertungskapazitäten. Zumal die EU ab 2023 den Export von Textilabfällen in Nicht-OECD-Länder verbieten will.
Es sind mehrere sich verstärkende Teufelskreise entstanden, aus denen es keinen Ausweg zu geben scheint. Sie sind für die Mode in ökologischer und sozialer Hinsicht so verheerend, dass die ersten Experten schon Bekleidungskontingente für jeden Bürger ins Gespräch bringen. Es ist wie in Goethes Zauberlehrling: Was als Segen anfing, wurde zur Ausgeburt der Hölle: „Die ich rief, die Geister, werd ich nun nicht los.“
Durch die Pandemie, Social Media und Games, Diskussionen über Diversität und Gender sowie neue Kunstformen und die US-Popkultur aber auch durch die Digitalisierung und Nachhaltigkeit befinden sich Werte und damit die Ästhetik in einem so starken Wandel, wie wohl seit den 1960er Jahren nicht mehr. Das gibt die Chance für eine ganz neue Mode. Und damit für neue Wertstoffketten.
Zum Teil II Optionen: Besser als das Gleiche in Grün
Joachim Schirrmacher
Nach seiner Lehre zum Einzelhandelskaufmann studierte er Designmanagement mit Schwerpunkten wie Ökologie oder Gender. Seit 1994 beschäftigt er sich in seiner Arbeit mit Nachhaltiger Mode. Er arbeitet seit über 20 Jahren als Autor (Chefredakteur Style in Progress, Tagesspiegel, NZZ), Sprecher (Copenhagen Business School, Goethe-Institut, HDS/L) und Kommunikationsexperte für Unternehmen wie Carroux Caffee, Freitag Lab AG, Messe München oder Retail Brand Services sowie Institutionen wie dem Auswärtigen Amt. Seit 2004 verantwortet er pro bono den European Fashion Award FASH der SDBI.DE www.schirrmacher.org
Über nachhaltige und faire Mode wird seit Jahrzehnten intensiv diskutiert. Alle reden von Kreislaufwirtschaft, und viele Modeunternehmen haben Sustainability-Projekte angekündigt. Doch die Realität ist mehr als ernüchternd. Nun will die Europäische Kommission mit einer umfangreichen Textilstrategie die Mode zur Nachhaltigkeit verpflichten.
Eine Analyse von Joachim Schirrmacher
Zum Teil II Optionen: Besser als das Gleiche in Grün
85 Prozent aller Unternehmen sehen Nachhaltigkeit als Unternehmensstrategie. Das liegt neben allem persönlichen Engagement von Frauen wie Antje von Dewitz und Männern wie Michael Otto auch daran, dass inzwischen fast alle größeren Modeunternehmen im Besitz von Investoren oder Aktiengesellschaften sind. Vieles ist daher ein Ankündigungsmarketing, das sich an die Öffentlichkeit richtet und die Shareholder abholen soll. Zumeist werden Vorzeigeprojekte in kleinen Stückzahlen aufgelegt. Das Kerngeschäft ändert sich hingegen kaum.
Circular Economy statt Recycling?
Besonders beliebt ist das Werben für eine Kreislaufwirtschaft mit Slogans wie „Recyceln Sie Mode“. Aus alt wird neu, ein perfektes Perpetuum Mobile: Regen fällt, fließt durch die Obstwiese und in einen Fluss, weiter ins Meer, verdunstet in den Himmel und fällt wieder. Nur zu gerne wollen wir es glauben.
Damit die Modeindustrie nicht nur redet will die Europäische Kommission sie jetzt zur Nachhaltigkeit verpflichten. Sie sagt damit der Fast Fashion und Überproduktion sowie dem Greenwashing den Kampf an. Ende März hat sie dazu eine umfangreiche und ehrgeizige „EU-Strategie für nachhaltige und kreislauffähige Textilien“ (EU-Textilstrategie) vorgestellt.
Bis 2030 sollen in der EU auf den Markt gebrachte Textilien langlebig und kreislauffähig gestaltet und unter Wahrung der sozialen Rechte und des Umweltschutzes hergestellt sein. Sie sollen dabei größtenteils aus Recyclingfasern bestehen und frei von umweltschädlichen Schadstoffen und Mikroplastik sein. Zudem soll die Kreislaufwirtschaft in der Mode florieren und über ausreichende Kapazitäten für ein Faser-zu-Faser-Recycling verfügen. Hersteller müssen künftig die Verantwortung für ihre Produkte vom Design bis zur Entsorgung übernehmen.
Von Null auf Hundert
Die Ziele sind extrem ehrgeizig, denn bislang ist die „Circular Economy“ in der Mode nur Vision. Einen echten Kreislauf, in dem Altkleider zu neuen Textilien werden, gibt es bisher nicht. Neben Secondhandkleidung ist das Recycling von Altkleidern, die nicht mehr getragen werden können, derzeit die einzige Lösung. Doch dieses Recycling ist eine Abwärtsspirale, kein Kreislauf. Jeans werden bestenfalls zu Viskosegarnen, die meisten Textilien jedoch zu Putzlappen für die Industrie, Vlies- und Isolierstoffen oder Pappe. Immerhin ein Fortschritt zum linearen Modell, bei dem die Alttextilien direkt in der Verbrennung oder auf einer Deponie landeten.
Viele andere Projekte sind Scheinlösungen. So stammt recyceltes Polyester in Kleidung von PET-Flaschen und nicht aus Polyesterkleidung aus dem Altkleider-Container. Daher muss für die Flaschenproduktion auch neues Polyester verwendet werden. Die EU-Kommission sieht dies als Irreführung der Verbraucher und als Verstoß gegen den geschlossenen Kreislauf für PET- Lebensmittelflaschen.
Und so sinnvoll ein Upcycling, also aus älteren Teilen neue Kleidung zu nähen, im privaten Bereich, für Kleinserien und vor allem für einen Bewusstseinswandel ist, bietet es keine industrielle Perspektive.
Biobasierte Garne aus Algen, Ananas- oder Bananenschalen, Blüten, CO2 oder Milch, Lebensmittelreste zum Färben von Textilien oder das biologisch abbaubare Stretchgarn Coreva stecken noch in den Kinderschuhen.
Die EU-Kommission ruft daher die Unternehmen auf, ihre Bemühungen auf das Faser-zu-Faser-Recycling zu konzentrieren. Derzeit liegt der Anteil unter einem Prozent, so die Ellen-MacArthur-Stiftung. Es gilt also eine „Lücke“ von 99 Prozent in nur acht Jahren zu schließen. Bislang gibt es nur wenige Forschungs- und Pilotprojekte. Und diese sind noch ganz am Anfang mit minimalen Produktionsmengen, die angekündigt wurden. Zu den wichtigsten Projekten zählen:
– Prozesssichere Materialerkennung (verschiedene Ansätze wie Chips circularity.ID)
– Optimiertes mechanisches Recycling mit längeren Fasern
– Chemisches Trennen von Polyester/Baumwolle (Re:wind, Resyntex mit I Collect und Soex, Uni Wien, Worn Again Technologies)
– Chemische Umwandlung von Baumwolle zu Viskose (Evrnu, re:newcell, Saxion, SaXcell, Södra, Lenzing)
– Trennung von Baumwoll/Elasthan (Re:Mix)
Keine Frage: Dies sind wichtige Fortschritte, und es gibt große Hoffnungen, dass aus dem Faser-zu-Faser-Recycling ein gigantisches Geschäft wird. Doch die Herausforderungen sind noch enorm: Der Energieaufwand z.B. für das Säubern und Entfärben ist sehr hoch. Der Mix verschiedener Polyesterarten ist problematisch. Elasthan oder Chemikalien in den Alttextilien beeinträchtigen den Prozess. Beispielsweise verstopfen sie die Düsen der Spinnmaschinen. Recyclingfasern sind zudem teurer als Primärrohstoffe.
Wo liegt das Problem?
Auf absehbare Zeit findet daher ein Recycling von Fasern zu neuen Kleidern, aufgrund technologischer Grenzen wie der Faserlänge, im großindustriellen Maßstab praktisch nicht statt. Eine Übersicht von 2021 zum Stand der Recycling-Technik der RWTH Aachen kommt sogar zu dem ernüchternden Fazit: „Recycling wird die Nachhaltigkeitsprobleme in der Textil-Industrie nicht lösen.“
Das Versprechen der Bioökonomie bzw. des Green Deal, wir könnten dank des technologischen Fortschritts mit reinem Gewissen so weiterleben wie bisher, erscheint also als Illusion.
Dabei geht es um unfassbare Mengen. Seit dem Jahr 2000 hat sich laut der Ellen-MacArthur-Stiftung der Konsum von Kleidung verdoppelt und die Tragezeit zudem halbiert. Da die Preise für Mode in der EU zwischen 1996 und 2018 inflationsbereinigt laut der EU-Textilstrategie um über 30 Prozent gesunken sind, sind Mengen aussagekräftiger als Umsätze, um sich die Dimensionen vor Augen zu führen.
Pro Jahr werden schätzungsweise statt einst 50 jetzt etwa 120 Milliarden Kleidungsstücke weltweit hergestellt. Greenpeace spricht sogar von rund 200 Milliarden. Davon sollen laut der Ellen MacArthur Stiftung 40 Prozent nicht verkauft worden sein.
Vom Gebrauch zum Verbrauch
In Deutschland wurden davon 2018 laut Statista ca. 4,7 Milliarden Kleidungsstücke verkauft, das sind im Durchschnitt 56 Teile für jeden – vom Baby bis zum Greis. Und das Produktionsvolumen von Kleidungsstücken steigt weiter jährlich um 2,7 Prozent an.
Frauen kaufen deutlich mehr Mode wie Männer: Laut einer Studie der Hochschule Macromedia von 2021 besitzen Frauen im Schnitt 175 und Männer 105,4 Kleidungstücke. Etwa ein Drittel davon wurde in den letzten 12 Monaten gekauft.
Kleidung wird laut der Initiative der Bundesregierung „Grüner Knopf“ im Schnitt viermal getragen, vieles gar nicht. So stehen drei Lieblingsteilen drei sogenannte Schrankleichen gegenüber.
Der Gebrauch wurde zu einem rapiden Verbrauch von Kleidung. Und das nicht nur in Deutschland, Europa oder den USA. Mit dem Anwachsen der Weltbevölkerung bis 2030 auf mehr als 8,5 Milliarden Menschen und steigendem Haushaltseinkommen auch in China, Indien oder Brasilien.
Überfluss bis zum Überdruß
Fast Fashion, also preisgünstige Kleidung oft minderer Qualität, gilt als Hauptverursacher des Überangebots an Mode. Zara brachte als eines der ersten Unternehmen alle zwei Wochen neue Modelle auf den Markt, statt ein- oder zweimal pro Saison. Wer keine Marktanteile verlieren wollte, musste mitziehen. Die Fast Fashion war geboren und wurde als „Demokratisierung der Mode“ gefeiert. Signalwirkung hatte 2004 die Kollektion „Karl Lagerfeld by H&M“. Einige Unternehmen produzieren gar bis zu 52 Kollektionen im Jahr. Oft in Qualitäten, die selbst für eine Weiterverwendung als Putzlappen zu schlecht sind. Anbieter wie Shein aus China bieten täglich Neuheiten; diese werden überwiegend von Teenies in aller Welt gekauft, also der Generation „Fridays for Future“. Mit wechselnden Moden hat die Fast Fashion nur sehr bedingt zu tun. Es geht vor allem um Konsumanreize. Stores und Medien brauchen schließlich immer neue Impulse.
Berauschung durch Betäubung
Keine Frage, es ist ein großer Gewinn, dass Dank des industriellen Fortschritts „Mode für Millionen“ möglich geworden ist. So entwarf Karl Lagerfeld von 1987 bis 1995 auch Mode für Klaus Steilmann, dem Gründer der Stiftung, die den European Fashion Award FASH auslobt.
Doch die Demokratisierung der Mode hat sich als ein Überkonsum für alle herausgestellt. Der Journalist Gert Scobel analysiert: „In Wirklichkeit handelt es sich nicht um echten Luxus, sondern um seine Simulierung [… die] leer läuft und immer schneller durch neuen Konsum angeregt werden muss.“
Letzlich wirkt der Überkonsum von Mode und Instagram wie eine Narkose. Sie betäubt Langeweile, mangelndes Selbstbewusstsein und oft wohl auch eine unbewusste religiöse Sehnsucht und Orientierungssuche.
Mit etwas Abstand erkennt man schnell, dass der heutige westliche Konsumlevel, den viele für normal halten, ein Ausnahmezustand in der Geschichte ist. Es gibt kein Menschenrecht auf grenzenlosen Konsum. Zumal dies auf Kosten der Umwelt, der Arbeiterinnen und der kommenden Generationen geschieht.
Wie konnte es soweit kommen?
Ein wesentlicher Auslöser des ungeheuren Aufstiegs der Fast Fashion ist das Auslaufen jedweder Handelsbeschränkungen mit dem Fall des Welttextilabkommens (WTO) zum Ende 2004. 1974 waren die Importquoten zum Schutz von Arbeitsplätzen im Westen vor Billigimporten eingeführt worden. Die Abschaffung und Öffnung der Märkte war in Zeiten des Neoliberalismus von der Politik gewollt. Die globale Beschaffung wurde in der Folge neu kalibriert. Die Preise sanken stark. Allein 5 bis 10 Prozent entfielen durch den Wegfall der Kosten für die Quoten. Ganze Länder, wie in Afrika, verloren ihre Textilindustrie. Die Exporte stiegen schon 2005 so stark, dass China auf Druck der EU die Exporte freiwillig begrenzte. Seit der Handel nicht mehr durch Quoten begrenzt wurde, legten die Fast Fashion Anbieter und Textil-Discounter ein ungeheures Wachstum an den Tag.
Brandbeschleuniger
Das Aufkommen des Onlinehandels von Amazon bis Zalando und vor allem der inzwischen fast zum Standard gewordenen kostenlosen Retouren führte zu Rücksendequoten für Mode von bis zu 60 Prozent. „Schrei vor Glück – oder schick‘s zurück“ – auch dies verstärkte den Modekonsum maßgeblich.
Zeitgleich stieg Instagram in kürzester Zeit zum heute dominanten Mode-Medium auf und wirkt wie ein zusätzlicher Brandbeschleuniger. Laut einer Studie des Netzwerks LTK tätigen 42 Prozent der „Gen Z“ den Großteil ihrer Einkäufe über Soziale Medien wie Instagram oder TikTok. Die Folge der billigen Preise und ständig neuen Konsumanreize: Millionen kaufen zu viel Kleidung, zu oft und meist viel zu unüberlegt.
Die Kraft des Irrationalen
Warum kaufen wir soviel? Wir wissen es wohl selber nicht. Und wollen nicht darüber nachdenken. Marktforscher Ralph Ohnemus erklärt die mangelnde Konsequenz mit Hinweis auf den Nobelpreisträger Daniel Kahnemann so: „Wir sind faul und wollen nicht zu viel denken.“ Statt bewusst zu konsumieren, folgen wir einfach unseren Emotionen. Denn beim logischen Denken braucht unser Gehirn viel Energie.
Schon das Luxurieren der Natur – etwa beim Pfau – legt nahe, dass das Streben nach Differenz zur Evolution gehört und dass die Lust an der Verschwendung in der Triebstruktur wurzelt. Und so war ein zur Schau gestellter Konsum schon immer eine Demonstration von Macht. Gerade auf Instagram erhalten laute Inszenierungen Aufmerksamkeit und erhöhen so das „symbolische Kapital“.
Gegen diese Kraft des Irrationalen kommen die Argumente der Vernunft kaum an. Seit der Antike blieben alle Aufrufe zur Askese weitgehend erfolglos.
Statt einen tatsächlichen Bedarf zu stillen, ermöglicht es unser Wohlstand in Verbindung mit billiger Fast Fashion, dass wir heute vielfach nur noch kaufen „um unsere Stimmung zu modulieren“, wie Carl Tillessen in seinem Bestseller „Konsum“ schreibt. Ob aus Langeweile, als Belohnung oder zum Trost.
Der wirksame Weg
Der wirksamste Weg ist denkbar einfach: Kleidungsstücke deutlich länger zu tragen. Auch Secondhand-Kleidung ist eine Möglichkeit, sich ressourcenschonend einzukleiden und weiterhin Spaß an Mode zu haben. Das Geschäft mit Secondhand-Mode boomt. Doch die Gleichung von Secondhand und Nachhaltigkeit geht nur auf, wenn insgesamt nicht mehr Kleidung konsumiert wird. Denn die niedrigen Preise und das gute Gewissen verleiten schnell zu noch mehr Konsum, , dem sogenannten Rebound oder Bumerang-Effekt.
Europa Rekord
Wieviele Altkleider es in Deutschland gibt, ist unklar, da keine genauen Daten erfasst werden. Nach Berechnungen des Bundesverband Sekundärrohstoffe und Entsorgung (BVSE) bringen rund 85 Prozent der Deutschen ihre Altkleider zum Sammelcontainer: ein Rekord in Europa. So werden hierzulande pro Jahr knapp 1,3 Million Tonnen Altkleider in etwa 120.000 Containern gesammelt. Somit landen fast drei Viertel aller ungewollten Kleider bei Textilverwertern.
ZDF Dokumentation von 2018 über das Werk Bitterfeld-Wolfen des Textilrecyclers „Soex“ © Soex
Allein beim Marktführer Soex in Bitterfeld-Wolfen können jedes Jahr bis zu 100.000 Tonnen sortiert werden. Davon sind 10 Prozent neuwertig und werden in deutschen Secondhand Läden verkauft. Weitere 45 Prozent werden als Secondhand-Kleidung in mehr als 45 Ländern exportiert. 15 Prozent werden zu Putzlappen für die Industrie, 20 Prozent werden in der Reisserei in genau definierten Qualitäten zu Rohstoffen für Autohimmel, Isolier- und Füllstoffen, Malervlies oder für Kleiderbügel verarbeitet. Und die letzten 10 Prozent gelten als Abfall, von dem noch 3 Prozent an die Pappenindustrie verkauft werden. Die restlichen 7 Prozent müssen gegen Gebühr fachgerecht verbrannt werden. Allerdings verschieben sich die Anteile. Jedes Jahr landen mehr Textilien im Reisswolf oder der Verbrennungsanlage.
Wir haben keine Lösungen
Jahrzehntelang war das Geschäft mit Altkleidern so einträglich wie einfach gewesen. Die Verwerter wie Soex kauften Kommunen und karitativen Organisationen die gesammelten Altkleider ab, sortierten sie und exportierten das Gros als Secondhandware nach Osteuropa, in den Nahen Osten sowie Afrika. Die Nachfrage war viel höher als das Angebot.
Doch seit 2015 ist dieser Markt im Umbruch. Mehr Fast Fashion in den Sammlungen bedeutet eine deutlich schlechtere Qualität, so die BVSE-Studie von 2015. Da die Sortierer das Recycling der untragbaren Kleidung mit den Erlösen der hochwertigen Secondhandkleidung finanzieren, entstand eine prekäre Situation. Was gut ist für die Umwelt, verschärft die Krise der Textilsortierer.
Die einstige Spitzenware in den Sammlungen wird heute meist direkt von Privat an Privat über Internetplattformen oder über Online-Shops für Vintage-Mode verkauft. Dieses Geschäft wächst laut Global Data 21-mal so schnell wie die gesamte Modeindustrie auf prognostizierte 54 Milliarden Euro im Jahr 2024. Die Verbraucherpreise steigen stark, so dass schon von einer „Gentrifizierung von Secondhandmode“ gesprochen wird. Zugleich wehren sich viele afrikanische Länder zunehmend gegen den Import von Secondhandware. Zudem wird dort Kleidung aus China oft billiger verkauft als europäische Secondhand-Ware, auch wegen stark unterschiedlicher Zollgebühren.
Es quellen nicht nur die Kleiderschränke der Konsumenten über. Auch die Lagerhallen von Industrie und Handel sind mit überschüssiger Neuware und Retouren voll. Die Absatzmärkte sind hingegen übersättigt. Laut dem Spitzenverband Euratex gibt es keinen Plan, wohin wir in Europa mit künftig mehr als 5 Millionen Tonnen Altkleidern sollen. Diese Menge dürfte nochmals um geschätzte zwei Millionen Tonnen pro Jahr steigen, wenn ab dem 1. Januar 2025 das EU-Abfallrecht die getrennte Sammlung von Textilien vorschreibt. Dafür gibt es aktuell in Europa keine ausreichenden Sortier- und Verwertungskapazitäten. Zumal die EU ab 2023 den Export von Textilabfällen in Nicht-OECD-Länder verbieten will.
Es sind mehrere sich verstärkende Teufelskreise entstanden, aus denen es keinen Ausweg zu geben scheint. Sie sind für die Mode in ökologischer und sozialer Hinsicht so verheerend, dass die ersten Experten schon Bekleidungskontingente für jeden Bürger ins Gespräch bringen. Es ist wie in Goethes Zauberlehrling: Was als Segen anfing, wurde zur Ausgeburt der Hölle: „Die ich rief, die Geister, werd ich nun nicht los.“
Durch die Pandemie, Social Media und Games, Diskussionen über Diversität und Gender sowie neue Kunstformen und die US-Popkultur aber auch durch die Digitalisierung und Nachhaltigkeit befinden sich Werte und damit die Ästhetik in einem so starken Wandel, wie wohl seit den 1960er Jahren nicht mehr. Das gibt die Chance für eine ganz neue Mode. Und damit für neue Wertstoffketten.
Zum Teil II Optionen: Besser als das Gleiche in Grün
Joachim Schirrmacher
Nach seiner Lehre zum Einzelhandelskaufmann studierte er Designmanagement mit Schwerpunkten wie Ökologie oder Gender. Seit 1994 beschäftigt er sich in seiner Arbeit mit Nachhaltiger Mode. Er arbeitet seit über 20 Jahren als Autor (Chefredakteur Style in Progress, Tagesspiegel, NZZ), Sprecher (Copenhagen Business School, Goethe-Institut, HDS/L) und Kommunikationsexperte für Unternehmen wie Carroux Caffee, Freitag Lab AG, Messe München oder Retail Brand Services sowie Institutionen wie dem Auswärtigen Amt. Seit 2004 verantwortet er pro bono den European Fashion Award FASH der SDBI.DE www.schirrmacher.org
Über nachhaltige und faire Mode wird seit Jahrzehnten intensiv diskutiert. Alle reden von Kreislaufwirtschaft, und viele Modeunternehmen haben Sustainability-Projekte angekündigt. Doch die Realität ist mehr als ernüchternd. Nun will die Europäische Kommission mit einer umfangreichen Textilstrategie die Mode zur Nachhaltigkeit verpflichten.
Eine Analyse von Joachim Schirrmacher
Zum Teil II Optionen: Besser als das Gleiche in Grün
85 Prozent aller Unternehmen sehen Nachhaltigkeit als Unternehmensstrategie. Das liegt neben allem persönlichen Engagement von Frauen wie Antje von Dewitz und Männern wie Michael Otto auch daran, dass inzwischen fast alle größeren Modeunternehmen im Besitz von Investoren oder Aktiengesellschaften sind. Vieles ist daher ein Ankündigungsmarketing, das sich an die Öffentlichkeit richtet und die Shareholder abholen soll. Zumeist werden Vorzeigeprojekte in kleinen Stückzahlen aufgelegt. Das Kerngeschäft ändert sich hingegen kaum.
Circular Economy statt Recycling?
Besonders beliebt ist das Werben für eine Kreislaufwirtschaft mit Slogans wie „Recyceln Sie Mode“. Aus alt wird neu, ein perfektes Perpetuum Mobile: Regen fällt, fließt durch die Obstwiese und in einen Fluss, weiter ins Meer, verdunstet in den Himmel und fällt wieder. Nur zu gerne wollen wir es glauben.
Damit die Modeindustrie nicht nur redet will die Europäische Kommission sie jetzt zur Nachhaltigkeit verpflichten. Sie sagt damit der Fast Fashion und Überproduktion sowie dem Greenwashing den Kampf an. Ende März hat sie dazu eine umfangreiche und ehrgeizige „EU-Strategie für nachhaltige und kreislauffähige Textilien“ (EU-Textilstrategie) vorgestellt.
Bis 2030 sollen in der EU auf den Markt gebrachte Textilien langlebig und kreislauffähig gestaltet und unter Wahrung der sozialen Rechte und des Umweltschutzes hergestellt sein. Sie sollen dabei größtenteils aus Recyclingfasern bestehen und frei von umweltschädlichen Schadstoffen und Mikroplastik sein. Zudem soll die Kreislaufwirtschaft in der Mode florieren und über ausreichende Kapazitäten für ein Faser-zu-Faser-Recycling verfügen. Hersteller müssen künftig die Verantwortung für ihre Produkte vom Design bis zur Entsorgung übernehmen.
Von Null auf Hundert
Die Ziele sind extrem ehrgeizig, denn bislang ist die „Circular Economy“ in der Mode nur Vision. Einen echten Kreislauf, in dem Altkleider zu neuen Textilien werden, gibt es bisher nicht. Neben Secondhandkleidung ist das Recycling von Altkleidern, die nicht mehr getragen werden können, derzeit die einzige Lösung. Doch dieses Recycling ist eine Abwärtsspirale, kein Kreislauf. Jeans werden bestenfalls zu Viskosegarnen, die meisten Textilien jedoch zu Putzlappen für die Industrie, Vlies- und Isolierstoffen oder Pappe. Immerhin ein Fortschritt zum linearen Modell, bei dem die Alttextilien direkt in der Verbrennung oder auf einer Deponie landeten.
Viele andere Projekte sind Scheinlösungen. So stammt recyceltes Polyester in Kleidung von PET-Flaschen und nicht aus Polyesterkleidung aus dem Altkleider-Container. Daher muss für die Flaschenproduktion auch neues Polyester verwendet werden. Die EU-Kommission sieht dies als Irreführung der Verbraucher und als Verstoß gegen den geschlossenen Kreislauf für PET- Lebensmittelflaschen.
Und so sinnvoll ein Upcycling, also aus älteren Teilen neue Kleidung zu nähen, im privaten Bereich, für Kleinserien und vor allem für einen Bewusstseinswandel ist, bietet es keine industrielle Perspektive.
Biobasierte Garne aus Algen, Ananas- oder Bananenschalen, Blüten, CO2 oder Milch, Lebensmittelreste zum Färben von Textilien oder das biologisch abbaubare Stretchgarn Coreva stecken noch in den Kinderschuhen.
Die EU-Kommission ruft daher die Unternehmen auf, ihre Bemühungen auf das Faser-zu-Faser-Recycling zu konzentrieren. Derzeit liegt der Anteil unter einem Prozent, so die Ellen-MacArthur-Stiftung. Es gilt also eine „Lücke“ von 99 Prozent in nur acht Jahren zu schließen. Bislang gibt es nur wenige Forschungs- und Pilotprojekte. Und diese sind noch ganz am Anfang mit minimalen Produktionsmengen, die angekündigt wurden. Zu den wichtigsten Projekten zählen:
– Prozesssichere Materialerkennung (verschiedene Ansätze wie Chips circularity.ID)
– Optimiertes mechanisches Recycling mit längeren Fasern
– Chemisches Trennen von Polyester/Baumwolle (Re:wind, Resyntex mit I Collect und Soex, Uni Wien, Worn Again Technologies)
– Chemische Umwandlung von Baumwolle zu Viskose (Evrnu, re:newcell, Saxion, SaXcell, Södra, Lenzing)
– Trennung von Baumwoll/Elasthan (Re:Mix)
Keine Frage: Dies sind wichtige Fortschritte, und es gibt große Hoffnungen, dass aus dem Faser-zu-Faser-Recycling ein gigantisches Geschäft wird. Doch die Herausforderungen sind noch enorm: Der Energieaufwand z.B. für das Säubern und Entfärben ist sehr hoch. Der Mix verschiedener Polyesterarten ist problematisch. Elasthan oder Chemikalien in den Alttextilien beeinträchtigen den Prozess. Beispielsweise verstopfen sie die Düsen der Spinnmaschinen. Recyclingfasern sind zudem teurer als Primärrohstoffe.
Wo liegt das Problem?
Auf absehbare Zeit findet daher ein Recycling von Fasern zu neuen Kleidern, aufgrund technologischer Grenzen wie der Faserlänge, im großindustriellen Maßstab praktisch nicht statt. Eine Übersicht von 2021 zum Stand der Recycling-Technik der RWTH Aachen kommt sogar zu dem ernüchternden Fazit: „Recycling wird die Nachhaltigkeitsprobleme in der Textil-Industrie nicht lösen.“
Das Versprechen der Bioökonomie bzw. des Green Deal, wir könnten dank des technologischen Fortschritts mit reinem Gewissen so weiterleben wie bisher, erscheint also als Illusion.
Dabei geht es um unfassbare Mengen. Seit dem Jahr 2000 hat sich laut der Ellen-MacArthur-Stiftung der Konsum von Kleidung verdoppelt und die Tragezeit zudem halbiert. Da die Preise für Mode in der EU zwischen 1996 und 2018 inflationsbereinigt laut der EU-Textilstrategie um über 30 Prozent gesunken sind, sind Mengen aussagekräftiger als Umsätze, um sich die Dimensionen vor Augen zu führen.
Pro Jahr werden schätzungsweise statt einst 50 jetzt etwa 120 Milliarden Kleidungsstücke weltweit hergestellt. Greenpeace spricht sogar von rund 200 Milliarden. Davon sollen laut der Ellen MacArthur Stiftung 40 Prozent nicht verkauft worden sein.
Vom Gebrauch zum Verbrauch
In Deutschland wurden davon 2018 laut Statista ca. 4,7 Milliarden Kleidungsstücke verkauft, das sind im Durchschnitt 56 Teile für jeden – vom Baby bis zum Greis. Und das Produktionsvolumen von Kleidungsstücken steigt weiter jährlich um 2,7 Prozent an.
Frauen kaufen deutlich mehr Mode wie Männer: Laut einer Studie der Hochschule Macromedia von 2021 besitzen Frauen im Schnitt 175 und Männer 105,4 Kleidungstücke. Etwa ein Drittel davon wurde in den letzten 12 Monaten gekauft.
Kleidung wird laut der Initiative der Bundesregierung „Grüner Knopf“ im Schnitt viermal getragen, vieles gar nicht. So stehen drei Lieblingsteilen drei sogenannte Schrankleichen gegenüber.
Der Gebrauch wurde zu einem rapiden Verbrauch von Kleidung. Und das nicht nur in Deutschland, Europa oder den USA. Mit dem Anwachsen der Weltbevölkerung bis 2030 auf mehr als 8,5 Milliarden Menschen und steigendem Haushaltseinkommen auch in China, Indien oder Brasilien.
Überfluss bis zum Überdruß
Fast Fashion, also preisgünstige Kleidung oft minderer Qualität, gilt als Hauptverursacher des Überangebots an Mode. Zara brachte als eines der ersten Unternehmen alle zwei Wochen neue Modelle auf den Markt, statt ein- oder zweimal pro Saison. Wer keine Marktanteile verlieren wollte, musste mitziehen. Die Fast Fashion war geboren und wurde als „Demokratisierung der Mode“ gefeiert. Signalwirkung hatte 2004 die Kollektion „Karl Lagerfeld by H&M“. Einige Unternehmen produzieren gar bis zu 52 Kollektionen im Jahr. Oft in Qualitäten, die selbst für eine Weiterverwendung als Putzlappen zu schlecht sind. Anbieter wie Shein aus China bieten täglich Neuheiten; diese werden überwiegend von Teenies in aller Welt gekauft, also der Generation „Fridays for Future“. Mit wechselnden Moden hat die Fast Fashion nur sehr bedingt zu tun. Es geht vor allem um Konsumanreize. Stores und Medien brauchen schließlich immer neue Impulse.
Berauschung durch Betäubung
Keine Frage, es ist ein großer Gewinn, dass Dank des industriellen Fortschritts „Mode für Millionen“ möglich geworden ist. So entwarf Karl Lagerfeld von 1987 bis 1995 auch Mode für Klaus Steilmann, dem Gründer der Stiftung, die den European Fashion Award FASH auslobt.
Doch die Demokratisierung der Mode hat sich als ein Überkonsum für alle herausgestellt. Der Journalist Gert Scobel analysiert: „In Wirklichkeit handelt es sich nicht um echten Luxus, sondern um seine Simulierung [… die] leer läuft und immer schneller durch neuen Konsum angeregt werden muss.“
Letzlich wirkt der Überkonsum von Mode und Instagram wie eine Narkose. Sie betäubt Langeweile, mangelndes Selbstbewusstsein und oft wohl auch eine unbewusste religiöse Sehnsucht und Orientierungssuche.
Mit etwas Abstand erkennt man schnell, dass der heutige westliche Konsumlevel, den viele für normal halten, ein Ausnahmezustand in der Geschichte ist. Es gibt kein Menschenrecht auf grenzenlosen Konsum. Zumal dies auf Kosten der Umwelt, der Arbeiterinnen und der kommenden Generationen geschieht.
Wie konnte es soweit kommen?
Ein wesentlicher Auslöser des ungeheuren Aufstiegs der Fast Fashion ist das Auslaufen jedweder Handelsbeschränkungen mit dem Fall des Welttextilabkommens (WTO) zum Ende 2004. 1974 waren die Importquoten zum Schutz von Arbeitsplätzen im Westen vor Billigimporten eingeführt worden. Die Abschaffung und Öffnung der Märkte war in Zeiten des Neoliberalismus von der Politik gewollt. Die globale Beschaffung wurde in der Folge neu kalibriert. Die Preise sanken stark. Allein 5 bis 10 Prozent entfielen durch den Wegfall der Kosten für die Quoten. Ganze Länder, wie in Afrika, verloren ihre Textilindustrie. Die Exporte stiegen schon 2005 so stark, dass China auf Druck der EU die Exporte freiwillig begrenzte. Seit der Handel nicht mehr durch Quoten begrenzt wurde, legten die Fast Fashion Anbieter und Textil-Discounter ein ungeheures Wachstum an den Tag.
Brandbeschleuniger
Das Aufkommen des Onlinehandels von Amazon bis Zalando und vor allem der inzwischen fast zum Standard gewordenen kostenlosen Retouren führte zu Rücksendequoten für Mode von bis zu 60 Prozent. „Schrei vor Glück – oder schick‘s zurück“ – auch dies verstärkte den Modekonsum maßgeblich.
Zeitgleich stieg Instagram in kürzester Zeit zum heute dominanten Mode-Medium auf und wirkt wie ein zusätzlicher Brandbeschleuniger. Laut einer Studie des Netzwerks LTK tätigen 42 Prozent der „Gen Z“ den Großteil ihrer Einkäufe über Soziale Medien wie Instagram oder TikTok. Die Folge der billigen Preise und ständig neuen Konsumanreize: Millionen kaufen zu viel Kleidung, zu oft und meist viel zu unüberlegt.
Die Kraft des Irrationalen
Warum kaufen wir soviel? Wir wissen es wohl selber nicht. Und wollen nicht darüber nachdenken. Marktforscher Ralph Ohnemus erklärt die mangelnde Konsequenz mit Hinweis auf den Nobelpreisträger Daniel Kahnemann so: „Wir sind faul und wollen nicht zu viel denken.“ Statt bewusst zu konsumieren, folgen wir einfach unseren Emotionen. Denn beim logischen Denken braucht unser Gehirn viel Energie.
Schon das Luxurieren der Natur – etwa beim Pfau – legt nahe, dass das Streben nach Differenz zur Evolution gehört und dass die Lust an der Verschwendung in der Triebstruktur wurzelt. Und so war ein zur Schau gestellter Konsum schon immer eine Demonstration von Macht. Gerade auf Instagram erhalten laute Inszenierungen Aufmerksamkeit und erhöhen so das „symbolische Kapital“.
Gegen diese Kraft des Irrationalen kommen die Argumente der Vernunft kaum an. Seit der Antike blieben alle Aufrufe zur Askese weitgehend erfolglos.
Statt einen tatsächlichen Bedarf zu stillen, ermöglicht es unser Wohlstand in Verbindung mit billiger Fast Fashion, dass wir heute vielfach nur noch kaufen „um unsere Stimmung zu modulieren“, wie Carl Tillessen in seinem Bestseller „Konsum“ schreibt. Ob aus Langeweile, als Belohnung oder zum Trost.
Der wirksame Weg
Der wirksamste Weg ist denkbar einfach: Kleidungsstücke deutlich länger zu tragen. Auch Secondhand-Kleidung ist eine Möglichkeit, sich ressourcenschonend einzukleiden und weiterhin Spaß an Mode zu haben. Das Geschäft mit Secondhand-Mode boomt. Doch die Gleichung von Secondhand und Nachhaltigkeit geht nur auf, wenn insgesamt nicht mehr Kleidung konsumiert wird. Denn die niedrigen Preise und das gute Gewissen verleiten schnell zu noch mehr Konsum, , dem sogenannten Rebound oder Bumerang-Effekt.
Europa Rekord
Wieviele Altkleider es in Deutschland gibt, ist unklar, da keine genauen Daten erfasst werden. Nach Berechnungen des Bundesverband Sekundärrohstoffe und Entsorgung (BVSE) bringen rund 85 Prozent der Deutschen ihre Altkleider zum Sammelcontainer: ein Rekord in Europa. So werden hierzulande pro Jahr knapp 1,3 Million Tonnen Altkleider in etwa 120.000 Containern gesammelt. Somit landen fast drei Viertel aller ungewollten Kleider bei Textilverwertern.
ZDF Dokumentation von 2018 über das Werk Bitterfeld-Wolfen des Textilrecyclers „Soex“ © Soex
Allein beim Marktführer Soex in Bitterfeld-Wolfen können jedes Jahr bis zu 100.000 Tonnen sortiert werden. Davon sind 10 Prozent neuwertig und werden in deutschen Secondhand Läden verkauft. Weitere 45 Prozent werden als Secondhand-Kleidung in mehr als 45 Ländern exportiert. 15 Prozent werden zu Putzlappen für die Industrie, 20 Prozent werden in der Reisserei in genau definierten Qualitäten zu Rohstoffen für Autohimmel, Isolier- und Füllstoffen, Malervlies oder für Kleiderbügel verarbeitet. Und die letzten 10 Prozent gelten als Abfall, von dem noch 3 Prozent an die Pappenindustrie verkauft werden. Die restlichen 7 Prozent müssen gegen Gebühr fachgerecht verbrannt werden. Allerdings verschieben sich die Anteile. Jedes Jahr landen mehr Textilien im Reisswolf oder der Verbrennungsanlage.
Wir haben keine Lösungen
Jahrzehntelang war das Geschäft mit Altkleidern so einträglich wie einfach gewesen. Die Verwerter wie Soex kauften Kommunen und karitativen Organisationen die gesammelten Altkleider ab, sortierten sie und exportierten das Gros als Secondhandware nach Osteuropa, in den Nahen Osten sowie Afrika. Die Nachfrage war viel höher als das Angebot.
Doch seit 2015 ist dieser Markt im Umbruch. Mehr Fast Fashion in den Sammlungen bedeutet eine deutlich schlechtere Qualität, so die BVSE-Studie von 2015. Da die Sortierer das Recycling der untragbaren Kleidung mit den Erlösen der hochwertigen Secondhandkleidung finanzieren, entstand eine prekäre Situation. Was gut ist für die Umwelt, verschärft die Krise der Textilsortierer.
Die einstige Spitzenware in den Sammlungen wird heute meist direkt von Privat an Privat über Internetplattformen oder über Online-Shops für Vintage-Mode verkauft. Dieses Geschäft wächst laut Global Data 21-mal so schnell wie die gesamte Modeindustrie auf prognostizierte 54 Milliarden Euro im Jahr 2024. Die Verbraucherpreise steigen stark, so dass schon von einer „Gentrifizierung von Secondhandmode“ gesprochen wird. Zugleich wehren sich viele afrikanische Länder zunehmend gegen den Import von Secondhandware. Zudem wird dort Kleidung aus China oft billiger verkauft als europäische Secondhand-Ware, auch wegen stark unterschiedlicher Zollgebühren.
Es quellen nicht nur die Kleiderschränke der Konsumenten über. Auch die Lagerhallen von Industrie und Handel sind mit überschüssiger Neuware und Retouren voll. Die Absatzmärkte sind hingegen übersättigt. Laut dem Spitzenverband Euratex gibt es keinen Plan, wohin wir in Europa mit künftig mehr als 5 Millionen Tonnen Altkleidern sollen. Diese Menge dürfte nochmals um geschätzte zwei Millionen Tonnen pro Jahr steigen, wenn ab dem 1. Januar 2025 das EU-Abfallrecht die getrennte Sammlung von Textilien vorschreibt. Dafür gibt es aktuell in Europa keine ausreichenden Sortier- und Verwertungskapazitäten. Zumal die EU ab 2023 den Export von Textilabfällen in Nicht-OECD-Länder verbieten will.
Es sind mehrere sich verstärkende Teufelskreise entstanden, aus denen es keinen Ausweg zu geben scheint. Sie sind für die Mode in ökologischer und sozialer Hinsicht so verheerend, dass die ersten Experten schon Bekleidungskontingente für jeden Bürger ins Gespräch bringen. Es ist wie in Goethes Zauberlehrling: Was als Segen anfing, wurde zur Ausgeburt der Hölle: „Die ich rief, die Geister, werd ich nun nicht los.“
Durch die Pandemie, Social Media und Games, Diskussionen über Diversität und Gender sowie neue Kunstformen und die US-Popkultur aber auch durch die Digitalisierung und Nachhaltigkeit befinden sich Werte und damit die Ästhetik in einem so starken Wandel, wie wohl seit den 1960er Jahren nicht mehr. Das gibt die Chance für eine ganz neue Mode. Und damit für neue Wertstoffketten.
Zum Teil II Optionen: Besser als das Gleiche in Grün
Joachim Schirrmacher
Nach seiner Lehre zum Einzelhandelskaufmann studierte er Designmanagement mit Schwerpunkten wie Ökologie oder Gender. Seit 1994 beschäftigt er sich in seiner Arbeit mit Nachhaltiger Mode. Er arbeitet seit über 20 Jahren als Autor (Chefredakteur Style in Progress, Tagesspiegel, NZZ), Sprecher (Copenhagen Business School, Goethe-Institut, HDS/L) und Kommunikationsexperte für Unternehmen wie Carroux Caffee, Freitag Lab AG, Messe München oder Retail Brand Services sowie Institutionen wie dem Auswärtigen Amt. Seit 2004 verantwortet er pro bono den European Fashion Award FASH der SDBI.DE www.schirrmacher.org
Über nachhaltige und faire Mode wird seit Jahrzehnten intensiv diskutiert. Alle reden von Kreislaufwirtschaft, und viele Modeunternehmen haben Sustainability-Projekte angekündigt. Doch die Realität ist mehr als ernüchternd. Nun will die Europäische Kommission mit einer umfangreichen Textilstrategie die Mode zur Nachhaltigkeit verpflichten.
Eine Analyse von Joachim Schirrmacher
Zum Teil II Optionen: Besser als das Gleiche in Grün
85 Prozent aller Unternehmen sehen Nachhaltigkeit als Unternehmensstrategie. Das liegt neben allem persönlichen Engagement von Frauen wie Antje von Dewitz und Männern wie Michael Otto auch daran, dass inzwischen fast alle größeren Modeunternehmen im Besitz von Investoren oder Aktiengesellschaften sind. Vieles ist daher ein Ankündigungsmarketing, das sich an die Öffentlichkeit richtet und die Shareholder abholen soll. Zumeist werden Vorzeigeprojekte in kleinen Stückzahlen aufgelegt. Das Kerngeschäft ändert sich hingegen kaum.
Circular Economy statt Recycling?
Besonders beliebt ist das Werben für eine Kreislaufwirtschaft mit Slogans wie „Recyceln Sie Mode“. Aus alt wird neu, ein perfektes Perpetuum Mobile: Regen fällt, fließt durch die Obstwiese und in einen Fluss, weiter ins Meer, verdunstet in den Himmel und fällt wieder. Nur zu gerne wollen wir es glauben.
Damit die Modeindustrie nicht nur redet will die Europäische Kommission sie jetzt zur Nachhaltigkeit verpflichten. Sie sagt damit der Fast Fashion und Überproduktion sowie dem Greenwashing den Kampf an. Ende März hat sie dazu eine umfangreiche und ehrgeizige „EU-Strategie für nachhaltige und kreislauffähige Textilien“ (EU-Textilstrategie) vorgestellt.
Bis 2030 sollen in der EU auf den Markt gebrachte Textilien langlebig und kreislauffähig gestaltet und unter Wahrung der sozialen Rechte und des Umweltschutzes hergestellt sein. Sie sollen dabei größtenteils aus Recyclingfasern bestehen und frei von umweltschädlichen Schadstoffen und Mikroplastik sein. Zudem soll die Kreislaufwirtschaft in der Mode florieren und über ausreichende Kapazitäten für ein Faser-zu-Faser-Recycling verfügen. Hersteller müssen künftig die Verantwortung für ihre Produkte vom Design bis zur Entsorgung übernehmen.
Von Null auf Hundert
Die Ziele sind extrem ehrgeizig, denn bislang ist die „Circular Economy“ in der Mode nur Vision. Einen echten Kreislauf, in dem Altkleider zu neuen Textilien werden, gibt es bisher nicht. Neben Secondhandkleidung ist das Recycling von Altkleidern, die nicht mehr getragen werden können, derzeit die einzige Lösung. Doch dieses Recycling ist eine Abwärtsspirale, kein Kreislauf. Jeans werden bestenfalls zu Viskosegarnen, die meisten Textilien jedoch zu Putzlappen für die Industrie, Vlies- und Isolierstoffen oder Pappe. Immerhin ein Fortschritt zum linearen Modell, bei dem die Alttextilien direkt in der Verbrennung oder auf einer Deponie landeten.
Viele andere Projekte sind Scheinlösungen. So stammt recyceltes Polyester in Kleidung von PET-Flaschen und nicht aus Polyesterkleidung aus dem Altkleider-Container. Daher muss für die Flaschenproduktion auch neues Polyester verwendet werden. Die EU-Kommission sieht dies als Irreführung der Verbraucher und als Verstoß gegen den geschlossenen Kreislauf für PET- Lebensmittelflaschen.
Und so sinnvoll ein Upcycling, also aus älteren Teilen neue Kleidung zu nähen, im privaten Bereich, für Kleinserien und vor allem für einen Bewusstseinswandel ist, bietet es keine industrielle Perspektive.
Biobasierte Garne aus Algen, Ananas- oder Bananenschalen, Blüten, CO2 oder Milch, Lebensmittelreste zum Färben von Textilien oder das biologisch abbaubare Stretchgarn Coreva stecken noch in den Kinderschuhen.
Die EU-Kommission ruft daher die Unternehmen auf, ihre Bemühungen auf das Faser-zu-Faser-Recycling zu konzentrieren. Derzeit liegt der Anteil unter einem Prozent, so die Ellen-MacArthur-Stiftung. Es gilt also eine „Lücke“ von 99 Prozent in nur acht Jahren zu schließen. Bislang gibt es nur wenige Forschungs- und Pilotprojekte. Und diese sind noch ganz am Anfang mit minimalen Produktionsmengen, die angekündigt wurden. Zu den wichtigsten Projekten zählen:
– Prozesssichere Materialerkennung (verschiedene Ansätze wie Chips circularity.ID)
– Optimiertes mechanisches Recycling mit längeren Fasern
– Chemisches Trennen von Polyester/Baumwolle (Re:wind, Resyntex mit I Collect und Soex, Uni Wien, Worn Again Technologies)
– Chemische Umwandlung von Baumwolle zu Viskose (Evrnu, re:newcell, Saxion, SaXcell, Södra, Lenzing)
– Trennung von Baumwoll/Elasthan (Re:Mix)
Keine Frage: Dies sind wichtige Fortschritte, und es gibt große Hoffnungen, dass aus dem Faser-zu-Faser-Recycling ein gigantisches Geschäft wird. Doch die Herausforderungen sind noch enorm: Der Energieaufwand z.B. für das Säubern und Entfärben ist sehr hoch. Der Mix verschiedener Polyesterarten ist problematisch. Elasthan oder Chemikalien in den Alttextilien beeinträchtigen den Prozess. Beispielsweise verstopfen sie die Düsen der Spinnmaschinen. Recyclingfasern sind zudem teurer als Primärrohstoffe.
Wo liegt das Problem?
Auf absehbare Zeit findet daher ein Recycling von Fasern zu neuen Kleidern, aufgrund technologischer Grenzen wie der Faserlänge, im großindustriellen Maßstab praktisch nicht statt. Eine Übersicht von 2021 zum Stand der Recycling-Technik der RWTH Aachen kommt sogar zu dem ernüchternden Fazit: „Recycling wird die Nachhaltigkeitsprobleme in der Textil-Industrie nicht lösen.“
Das Versprechen der Bioökonomie bzw. des Green Deal, wir könnten dank des technologischen Fortschritts mit reinem Gewissen so weiterleben wie bisher, erscheint also als Illusion.
Dabei geht es um unfassbare Mengen. Seit dem Jahr 2000 hat sich laut der Ellen-MacArthur-Stiftung der Konsum von Kleidung verdoppelt und die Tragezeit zudem halbiert. Da die Preise für Mode in der EU zwischen 1996 und 2018 inflationsbereinigt laut der EU-Textilstrategie um über 30 Prozent gesunken sind, sind Mengen aussagekräftiger als Umsätze, um sich die Dimensionen vor Augen zu führen.
Pro Jahr werden schätzungsweise statt einst 50 jetzt etwa 120 Milliarden Kleidungsstücke weltweit hergestellt. Greenpeace spricht sogar von rund 200 Milliarden. Davon sollen laut der Ellen MacArthur Stiftung 40 Prozent nicht verkauft worden sein.
Vom Gebrauch zum Verbrauch
In Deutschland wurden davon 2018 laut Statista ca. 4,7 Milliarden Kleidungsstücke verkauft, das sind im Durchschnitt 56 Teile für jeden – vom Baby bis zum Greis. Und das Produktionsvolumen von Kleidungsstücken steigt weiter jährlich um 2,7 Prozent an.
Frauen kaufen deutlich mehr Mode wie Männer: Laut einer Studie der Hochschule Macromedia von 2021 besitzen Frauen im Schnitt 175 und Männer 105,4 Kleidungstücke. Etwa ein Drittel davon wurde in den letzten 12 Monaten gekauft.
Kleidung wird laut der Initiative der Bundesregierung „Grüner Knopf“ im Schnitt viermal getragen, vieles gar nicht. So stehen drei Lieblingsteilen drei sogenannte Schrankleichen gegenüber.
Der Gebrauch wurde zu einem rapiden Verbrauch von Kleidung. Und das nicht nur in Deutschland, Europa oder den USA. Mit dem Anwachsen der Weltbevölkerung bis 2030 auf mehr als 8,5 Milliarden Menschen und steigendem Haushaltseinkommen auch in China, Indien oder Brasilien.
Überfluss bis zum Überdruß
Fast Fashion, also preisgünstige Kleidung oft minderer Qualität, gilt als Hauptverursacher des Überangebots an Mode. Zara brachte als eines der ersten Unternehmen alle zwei Wochen neue Modelle auf den Markt, statt ein- oder zweimal pro Saison. Wer keine Marktanteile verlieren wollte, musste mitziehen. Die Fast Fashion war geboren und wurde als „Demokratisierung der Mode“ gefeiert. Signalwirkung hatte 2004 die Kollektion „Karl Lagerfeld by H&M“. Einige Unternehmen produzieren gar bis zu 52 Kollektionen im Jahr. Oft in Qualitäten, die selbst für eine Weiterverwendung als Putzlappen zu schlecht sind. Anbieter wie Shein aus China bieten täglich Neuheiten; diese werden überwiegend von Teenies in aller Welt gekauft, also der Generation „Fridays for Future“. Mit wechselnden Moden hat die Fast Fashion nur sehr bedingt zu tun. Es geht vor allem um Konsumanreize. Stores und Medien brauchen schließlich immer neue Impulse.
Berauschung durch Betäubung
Keine Frage, es ist ein großer Gewinn, dass Dank des industriellen Fortschritts „Mode für Millionen“ möglich geworden ist. So entwarf Karl Lagerfeld von 1987 bis 1995 auch Mode für Klaus Steilmann, dem Gründer der Stiftung, die den European Fashion Award FASH auslobt.
Doch die Demokratisierung der Mode hat sich als ein Überkonsum für alle herausgestellt. Der Journalist Gert Scobel analysiert: „In Wirklichkeit handelt es sich nicht um echten Luxus, sondern um seine Simulierung [… die] leer läuft und immer schneller durch neuen Konsum angeregt werden muss.“
Letzlich wirkt der Überkonsum von Mode und Instagram wie eine Narkose. Sie betäubt Langeweile, mangelndes Selbstbewusstsein und oft wohl auch eine unbewusste religiöse Sehnsucht und Orientierungssuche.
Mit etwas Abstand erkennt man schnell, dass der heutige westliche Konsumlevel, den viele für normal halten, ein Ausnahmezustand in der Geschichte ist. Es gibt kein Menschenrecht auf grenzenlosen Konsum. Zumal dies auf Kosten der Umwelt, der Arbeiterinnen und der kommenden Generationen geschieht.
Wie konnte es soweit kommen?
Ein wesentlicher Auslöser des ungeheuren Aufstiegs der Fast Fashion ist das Auslaufen jedweder Handelsbeschränkungen mit dem Fall des Welttextilabkommens (WTO) zum Ende 2004. 1974 waren die Importquoten zum Schutz von Arbeitsplätzen im Westen vor Billigimporten eingeführt worden. Die Abschaffung und Öffnung der Märkte war in Zeiten des Neoliberalismus von der Politik gewollt. Die globale Beschaffung wurde in der Folge neu kalibriert. Die Preise sanken stark. Allein 5 bis 10 Prozent entfielen durch den Wegfall der Kosten für die Quoten. Ganze Länder, wie in Afrika, verloren ihre Textilindustrie. Die Exporte stiegen schon 2005 so stark, dass China auf Druck der EU die Exporte freiwillig begrenzte. Seit der Handel nicht mehr durch Quoten begrenzt wurde, legten die Fast Fashion Anbieter und Textil-Discounter ein ungeheures Wachstum an den Tag.
Brandbeschleuniger
Das Aufkommen des Onlinehandels von Amazon bis Zalando und vor allem der inzwischen fast zum Standard gewordenen kostenlosen Retouren führte zu Rücksendequoten für Mode von bis zu 60 Prozent. „Schrei vor Glück – oder schick‘s zurück“ – auch dies verstärkte den Modekonsum maßgeblich.
Zeitgleich stieg Instagram in kürzester Zeit zum heute dominanten Mode-Medium auf und wirkt wie ein zusätzlicher Brandbeschleuniger. Laut einer Studie des Netzwerks LTK tätigen 42 Prozent der „Gen Z“ den Großteil ihrer Einkäufe über Soziale Medien wie Instagram oder TikTok. Die Folge der billigen Preise und ständig neuen Konsumanreize: Millionen kaufen zu viel Kleidung, zu oft und meist viel zu unüberlegt.
Die Kraft des Irrationalen
Warum kaufen wir soviel? Wir wissen es wohl selber nicht. Und wollen nicht darüber nachdenken. Marktforscher Ralph Ohnemus erklärt die mangelnde Konsequenz mit Hinweis auf den Nobelpreisträger Daniel Kahnemann so: „Wir sind faul und wollen nicht zu viel denken.“ Statt bewusst zu konsumieren, folgen wir einfach unseren Emotionen. Denn beim logischen Denken braucht unser Gehirn viel Energie.
Schon das Luxurieren der Natur – etwa beim Pfau – legt nahe, dass das Streben nach Differenz zur Evolution gehört und dass die Lust an der Verschwendung in der Triebstruktur wurzelt. Und so war ein zur Schau gestellter Konsum schon immer eine Demonstration von Macht. Gerade auf Instagram erhalten laute Inszenierungen Aufmerksamkeit und erhöhen so das „symbolische Kapital“.
Gegen diese Kraft des Irrationalen kommen die Argumente der Vernunft kaum an. Seit der Antike blieben alle Aufrufe zur Askese weitgehend erfolglos.
Statt einen tatsächlichen Bedarf zu stillen, ermöglicht es unser Wohlstand in Verbindung mit billiger Fast Fashion, dass wir heute vielfach nur noch kaufen „um unsere Stimmung zu modulieren“, wie Carl Tillessen in seinem Bestseller „Konsum“ schreibt. Ob aus Langeweile, als Belohnung oder zum Trost.
Der wirksame Weg
Der wirksamste Weg ist denkbar einfach: Kleidungsstücke deutlich länger zu tragen. Auch Secondhand-Kleidung ist eine Möglichkeit, sich ressourcenschonend einzukleiden und weiterhin Spaß an Mode zu haben. Das Geschäft mit Secondhand-Mode boomt. Doch die Gleichung von Secondhand und Nachhaltigkeit geht nur auf, wenn insgesamt nicht mehr Kleidung konsumiert wird. Denn die niedrigen Preise und das gute Gewissen verleiten schnell zu noch mehr Konsum, , dem sogenannten Rebound oder Bumerang-Effekt.
Europa Rekord
Wieviele Altkleider es in Deutschland gibt, ist unklar, da keine genauen Daten erfasst werden. Nach Berechnungen des Bundesverband Sekundärrohstoffe und Entsorgung (BVSE) bringen rund 85 Prozent der Deutschen ihre Altkleider zum Sammelcontainer: ein Rekord in Europa. So werden hierzulande pro Jahr knapp 1,3 Million Tonnen Altkleider in etwa 120.000 Containern gesammelt. Somit landen fast drei Viertel aller ungewollten Kleider bei Textilverwertern.
ZDF Dokumentation von 2018 über das Werk Bitterfeld-Wolfen des Textilrecyclers „Soex“ © Soex
Allein beim Marktführer Soex in Bitterfeld-Wolfen können jedes Jahr bis zu 100.000 Tonnen sortiert werden. Davon sind 10 Prozent neuwertig und werden in deutschen Secondhand Läden verkauft. Weitere 45 Prozent werden als Secondhand-Kleidung in mehr als 45 Ländern exportiert. 15 Prozent werden zu Putzlappen für die Industrie, 20 Prozent werden in der Reisserei in genau definierten Qualitäten zu Rohstoffen für Autohimmel, Isolier- und Füllstoffen, Malervlies oder für Kleiderbügel verarbeitet. Und die letzten 10 Prozent gelten als Abfall, von dem noch 3 Prozent an die Pappenindustrie verkauft werden. Die restlichen 7 Prozent müssen gegen Gebühr fachgerecht verbrannt werden. Allerdings verschieben sich die Anteile. Jedes Jahr landen mehr Textilien im Reisswolf oder der Verbrennungsanlage.
Wir haben keine Lösungen
Jahrzehntelang war das Geschäft mit Altkleidern so einträglich wie einfach gewesen. Die Verwerter wie Soex kauften Kommunen und karitativen Organisationen die gesammelten Altkleider ab, sortierten sie und exportierten das Gros als Secondhandware nach Osteuropa, in den Nahen Osten sowie Afrika. Die Nachfrage war viel höher als das Angebot.
Doch seit 2015 ist dieser Markt im Umbruch. Mehr Fast Fashion in den Sammlungen bedeutet eine deutlich schlechtere Qualität, so die BVSE-Studie von 2015. Da die Sortierer das Recycling der untragbaren Kleidung mit den Erlösen der hochwertigen Secondhandkleidung finanzieren, entstand eine prekäre Situation. Was gut ist für die Umwelt, verschärft die Krise der Textilsortierer.
Die einstige Spitzenware in den Sammlungen wird heute meist direkt von Privat an Privat über Internetplattformen oder über Online-Shops für Vintage-Mode verkauft. Dieses Geschäft wächst laut Global Data 21-mal so schnell wie die gesamte Modeindustrie auf prognostizierte 54 Milliarden Euro im Jahr 2024. Die Verbraucherpreise steigen stark, so dass schon von einer „Gentrifizierung von Secondhandmode“ gesprochen wird. Zugleich wehren sich viele afrikanische Länder zunehmend gegen den Import von Secondhandware. Zudem wird dort Kleidung aus China oft billiger verkauft als europäische Secondhand-Ware, auch wegen stark unterschiedlicher Zollgebühren.
Es quellen nicht nur die Kleiderschränke der Konsumenten über. Auch die Lagerhallen von Industrie und Handel sind mit überschüssiger Neuware und Retouren voll. Die Absatzmärkte sind hingegen übersättigt. Laut dem Spitzenverband Euratex gibt es keinen Plan, wohin wir in Europa mit künftig mehr als 5 Millionen Tonnen Altkleidern sollen. Diese Menge dürfte nochmals um geschätzte zwei Millionen Tonnen pro Jahr steigen, wenn ab dem 1. Januar 2025 das EU-Abfallrecht die getrennte Sammlung von Textilien vorschreibt. Dafür gibt es aktuell in Europa keine ausreichenden Sortier- und Verwertungskapazitäten. Zumal die EU ab 2023 den Export von Textilabfällen in Nicht-OECD-Länder verbieten will.
Es sind mehrere sich verstärkende Teufelskreise entstanden, aus denen es keinen Ausweg zu geben scheint. Sie sind für die Mode in ökologischer und sozialer Hinsicht so verheerend, dass die ersten Experten schon Bekleidungskontingente für jeden Bürger ins Gespräch bringen. Es ist wie in Goethes Zauberlehrling: Was als Segen anfing, wurde zur Ausgeburt der Hölle: „Die ich rief, die Geister, werd ich nun nicht los.“
Durch die Pandemie, Social Media und Games, Diskussionen über Diversität und Gender sowie neue Kunstformen und die US-Popkultur aber auch durch die Digitalisierung und Nachhaltigkeit befinden sich Werte und damit die Ästhetik in einem so starken Wandel, wie wohl seit den 1960er Jahren nicht mehr. Das gibt die Chance für eine ganz neue Mode. Und damit für neue Wertstoffketten.
Zum Teil II Optionen: Besser als das Gleiche in Grün
Joachim Schirrmacher
Nach seiner Lehre zum Einzelhandelskaufmann studierte er Designmanagement mit Schwerpunkten wie Ökologie oder Gender. Seit 1994 beschäftigt er sich in seiner Arbeit mit Nachhaltiger Mode. Er arbeitet seit über 20 Jahren als Autor (Chefredakteur Style in Progress, Tagesspiegel, NZZ), Sprecher (Copenhagen Business School, Goethe-Institut, HDS/L) und Kommunikationsexperte für Unternehmen wie Carroux Caffee, Freitag Lab AG, Messe München oder Retail Brand Services sowie Institutionen wie dem Auswärtigen Amt. Seit 2004 verantwortet er pro bono den European Fashion Award FASH der SDBI.DE www.schirrmacher.org
Über nachhaltige und faire Mode wird seit Jahrzehnten intensiv diskutiert. Alle reden von Kreislaufwirtschaft, und viele Modeunternehmen haben Sustainability-Projekte angekündigt. Doch die Realität ist mehr als ernüchternd. Nun will die Europäische Kommission mit einer umfangreichen Textilstrategie die Mode zur Nachhaltigkeit verpflichten.
Eine Analyse von Joachim Schirrmacher
Zum Teil II Optionen: Besser als das Gleiche in Grün
85 Prozent aller Unternehmen sehen Nachhaltigkeit als Unternehmensstrategie. Das liegt neben allem persönlichen Engagement von Frauen wie Antje von Dewitz und Männern wie Michael Otto auch daran, dass inzwischen fast alle größeren Modeunternehmen im Besitz von Investoren oder Aktiengesellschaften sind. Vieles ist daher ein Ankündigungsmarketing, das sich an die Öffentlichkeit richtet und die Shareholder abholen soll. Zumeist werden Vorzeigeprojekte in kleinen Stückzahlen aufgelegt. Das Kerngeschäft ändert sich hingegen kaum.
Circular Economy statt Recycling?
Besonders beliebt ist das Werben für eine Kreislaufwirtschaft mit Slogans wie „Recyceln Sie Mode“. Aus alt wird neu, ein perfektes Perpetuum Mobile: Regen fällt, fließt durch die Obstwiese und in einen Fluss, weiter ins Meer, verdunstet in den Himmel und fällt wieder. Nur zu gerne wollen wir es glauben.
Damit die Modeindustrie nicht nur redet will die Europäische Kommission sie jetzt zur Nachhaltigkeit verpflichten. Sie sagt damit der Fast Fashion und Überproduktion sowie dem Greenwashing den Kampf an. Ende März hat sie dazu eine umfangreiche und ehrgeizige „EU-Strategie für nachhaltige und kreislauffähige Textilien“ (EU-Textilstrategie) vorgestellt.
Bis 2030 sollen in der EU auf den Markt gebrachte Textilien langlebig und kreislauffähig gestaltet und unter Wahrung der sozialen Rechte und des Umweltschutzes hergestellt sein. Sie sollen dabei größtenteils aus Recyclingfasern bestehen und frei von umweltschädlichen Schadstoffen und Mikroplastik sein. Zudem soll die Kreislaufwirtschaft in der Mode florieren und über ausreichende Kapazitäten für ein Faser-zu-Faser-Recycling verfügen. Hersteller müssen künftig die Verantwortung für ihre Produkte vom Design bis zur Entsorgung übernehmen.
Von Null auf Hundert
Die Ziele sind extrem ehrgeizig, denn bislang ist die „Circular Economy“ in der Mode nur Vision. Einen echten Kreislauf, in dem Altkleider zu neuen Textilien werden, gibt es bisher nicht. Neben Secondhandkleidung ist das Recycling von Altkleidern, die nicht mehr getragen werden können, derzeit die einzige Lösung. Doch dieses Recycling ist eine Abwärtsspirale, kein Kreislauf. Jeans werden bestenfalls zu Viskosegarnen, die meisten Textilien jedoch zu Putzlappen für die Industrie, Vlies- und Isolierstoffen oder Pappe. Immerhin ein Fortschritt zum linearen Modell, bei dem die Alttextilien direkt in der Verbrennung oder auf einer Deponie landeten.
Viele andere Projekte sind Scheinlösungen. So stammt recyceltes Polyester in Kleidung von PET-Flaschen und nicht aus Polyesterkleidung aus dem Altkleider-Container. Daher muss für die Flaschenproduktion auch neues Polyester verwendet werden. Die EU-Kommission sieht dies als Irreführung der Verbraucher und als Verstoß gegen den geschlossenen Kreislauf für PET- Lebensmittelflaschen.
Und so sinnvoll ein Upcycling, also aus älteren Teilen neue Kleidung zu nähen, im privaten Bereich, für Kleinserien und vor allem für einen Bewusstseinswandel ist, bietet es keine industrielle Perspektive.
Biobasierte Garne aus Algen, Ananas- oder Bananenschalen, Blüten, CO2 oder Milch, Lebensmittelreste zum Färben von Textilien oder das biologisch abbaubare Stretchgarn Coreva stecken noch in den Kinderschuhen.
Die EU-Kommission ruft daher die Unternehmen auf, ihre Bemühungen auf das Faser-zu-Faser-Recycling zu konzentrieren. Derzeit liegt der Anteil unter einem Prozent, so die Ellen-MacArthur-Stiftung. Es gilt also eine „Lücke“ von 99 Prozent in nur acht Jahren zu schließen. Bislang gibt es nur wenige Forschungs- und Pilotprojekte. Und diese sind noch ganz am Anfang mit minimalen Produktionsmengen, die angekündigt wurden. Zu den wichtigsten Projekten zählen:
– Prozesssichere Materialerkennung (verschiedene Ansätze wie Chips circularity.ID)
– Optimiertes mechanisches Recycling mit längeren Fasern
– Chemisches Trennen von Polyester/Baumwolle (Re:wind, Resyntex mit I Collect und Soex, Uni Wien, Worn Again Technologies)
– Chemische Umwandlung von Baumwolle zu Viskose (Evrnu, re:newcell, Saxion, SaXcell, Södra, Lenzing)
– Trennung von Baumwoll/Elasthan (Re:Mix)
Keine Frage: Dies sind wichtige Fortschritte, und es gibt große Hoffnungen, dass aus dem Faser-zu-Faser-Recycling ein gigantisches Geschäft wird. Doch die Herausforderungen sind noch enorm: Der Energieaufwand z.B. für das Säubern und Entfärben ist sehr hoch. Der Mix verschiedener Polyesterarten ist problematisch. Elasthan oder Chemikalien in den Alttextilien beeinträchtigen den Prozess. Beispielsweise verstopfen sie die Düsen der Spinnmaschinen. Recyclingfasern sind zudem teurer als Primärrohstoffe.
Wo liegt das Problem?
Auf absehbare Zeit findet daher ein Recycling von Fasern zu neuen Kleidern, aufgrund technologischer Grenzen wie der Faserlänge, im großindustriellen Maßstab praktisch nicht statt. Eine Übersicht von 2021 zum Stand der Recycling-Technik der RWTH Aachen kommt sogar zu dem ernüchternden Fazit: „Recycling wird die Nachhaltigkeitsprobleme in der Textil-Industrie nicht lösen.“
Das Versprechen der Bioökonomie bzw. des Green Deal, wir könnten dank des technologischen Fortschritts mit reinem Gewissen so weiterleben wie bisher, erscheint also als Illusion.
Dabei geht es um unfassbare Mengen. Seit dem Jahr 2000 hat sich laut der Ellen-MacArthur-Stiftung der Konsum von Kleidung verdoppelt und die Tragezeit zudem halbiert. Da die Preise für Mode in der EU zwischen 1996 und 2018 inflationsbereinigt laut der EU-Textilstrategie um über 30 Prozent gesunken sind, sind Mengen aussagekräftiger als Umsätze, um sich die Dimensionen vor Augen zu führen.
Pro Jahr werden schätzungsweise statt einst 50 jetzt etwa 120 Milliarden Kleidungsstücke weltweit hergestellt. Greenpeace spricht sogar von rund 200 Milliarden. Davon sollen laut der Ellen MacArthur Stiftung 40 Prozent nicht verkauft worden sein.
Vom Gebrauch zum Verbrauch
In Deutschland wurden davon 2018 laut Statista ca. 4,7 Milliarden Kleidungsstücke verkauft, das sind im Durchschnitt 56 Teile für jeden – vom Baby bis zum Greis. Und das Produktionsvolumen von Kleidungsstücken steigt weiter jährlich um 2,7 Prozent an.
Frauen kaufen deutlich mehr Mode wie Männer: Laut einer Studie der Hochschule Macromedia von 2021 besitzen Frauen im Schnitt 175 und Männer 105,4 Kleidungstücke. Etwa ein Drittel davon wurde in den letzten 12 Monaten gekauft.
Kleidung wird laut der Initiative der Bundesregierung „Grüner Knopf“ im Schnitt viermal getragen, vieles gar nicht. So stehen drei Lieblingsteilen drei sogenannte Schrankleichen gegenüber.
Der Gebrauch wurde zu einem rapiden Verbrauch von Kleidung. Und das nicht nur in Deutschland, Europa oder den USA. Mit dem Anwachsen der Weltbevölkerung bis 2030 auf mehr als 8,5 Milliarden Menschen und steigendem Haushaltseinkommen auch in China, Indien oder Brasilien.
Überfluss bis zum Überdruß
Fast Fashion, also preisgünstige Kleidung oft minderer Qualität, gilt als Hauptverursacher des Überangebots an Mode. Zara brachte als eines der ersten Unternehmen alle zwei Wochen neue Modelle auf den Markt, statt ein- oder zweimal pro Saison. Wer keine Marktanteile verlieren wollte, musste mitziehen. Die Fast Fashion war geboren und wurde als „Demokratisierung der Mode“ gefeiert. Signalwirkung hatte 2004 die Kollektion „Karl Lagerfeld by H&M“. Einige Unternehmen produzieren gar bis zu 52 Kollektionen im Jahr. Oft in Qualitäten, die selbst für eine Weiterverwendung als Putzlappen zu schlecht sind. Anbieter wie Shein aus China bieten täglich Neuheiten; diese werden überwiegend von Teenies in aller Welt gekauft, also der Generation „Fridays for Future“. Mit wechselnden Moden hat die Fast Fashion nur sehr bedingt zu tun. Es geht vor allem um Konsumanreize. Stores und Medien brauchen schließlich immer neue Impulse.
Berauschung durch Betäubung
Keine Frage, es ist ein großer Gewinn, dass Dank des industriellen Fortschritts „Mode für Millionen“ möglich geworden ist. So entwarf Karl Lagerfeld von 1987 bis 1995 auch Mode für Klaus Steilmann, dem Gründer der Stiftung, die den European Fashion Award FASH auslobt.
Doch die Demokratisierung der Mode hat sich als ein Überkonsum für alle herausgestellt. Der Journalist Gert Scobel analysiert: „In Wirklichkeit handelt es sich nicht um echten Luxus, sondern um seine Simulierung [… die] leer läuft und immer schneller durch neuen Konsum angeregt werden muss.“
Letzlich wirkt der Überkonsum von Mode und Instagram wie eine Narkose. Sie betäubt Langeweile, mangelndes Selbstbewusstsein und oft wohl auch eine unbewusste religiöse Sehnsucht und Orientierungssuche.
Mit etwas Abstand erkennt man schnell, dass der heutige westliche Konsumlevel, den viele für normal halten, ein Ausnahmezustand in der Geschichte ist. Es gibt kein Menschenrecht auf grenzenlosen Konsum. Zumal dies auf Kosten der Umwelt, der Arbeiterinnen und der kommenden Generationen geschieht.
Wie konnte es soweit kommen?
Ein wesentlicher Auslöser des ungeheuren Aufstiegs der Fast Fashion ist das Auslaufen jedweder Handelsbeschränkungen mit dem Fall des Welttextilabkommens (WTO) zum Ende 2004. 1974 waren die Importquoten zum Schutz von Arbeitsplätzen im Westen vor Billigimporten eingeführt worden. Die Abschaffung und Öffnung der Märkte war in Zeiten des Neoliberalismus von der Politik gewollt. Die globale Beschaffung wurde in der Folge neu kalibriert. Die Preise sanken stark. Allein 5 bis 10 Prozent entfielen durch den Wegfall der Kosten für die Quoten. Ganze Länder, wie in Afrika, verloren ihre Textilindustrie. Die Exporte stiegen schon 2005 so stark, dass China auf Druck der EU die Exporte freiwillig begrenzte. Seit der Handel nicht mehr durch Quoten begrenzt wurde, legten die Fast Fashion Anbieter und Textil-Discounter ein ungeheures Wachstum an den Tag.
Brandbeschleuniger
Das Aufkommen des Onlinehandels von Amazon bis Zalando und vor allem der inzwischen fast zum Standard gewordenen kostenlosen Retouren führte zu Rücksendequoten für Mode von bis zu 60 Prozent. „Schrei vor Glück – oder schick‘s zurück“ – auch dies verstärkte den Modekonsum maßgeblich.
Zeitgleich stieg Instagram in kürzester Zeit zum heute dominanten Mode-Medium auf und wirkt wie ein zusätzlicher Brandbeschleuniger. Laut einer Studie des Netzwerks LTK tätigen 42 Prozent der „Gen Z“ den Großteil ihrer Einkäufe über Soziale Medien wie Instagram oder TikTok. Die Folge der billigen Preise und ständig neuen Konsumanreize: Millionen kaufen zu viel Kleidung, zu oft und meist viel zu unüberlegt.
Die Kraft des Irrationalen
Warum kaufen wir soviel? Wir wissen es wohl selber nicht. Und wollen nicht darüber nachdenken. Marktforscher Ralph Ohnemus erklärt die mangelnde Konsequenz mit Hinweis auf den Nobelpreisträger Daniel Kahnemann so: „Wir sind faul und wollen nicht zu viel denken.“ Statt bewusst zu konsumieren, folgen wir einfach unseren Emotionen. Denn beim logischen Denken braucht unser Gehirn viel Energie.
Schon das Luxurieren der Natur – etwa beim Pfau – legt nahe, dass das Streben nach Differenz zur Evolution gehört und dass die Lust an der Verschwendung in der Triebstruktur wurzelt. Und so war ein zur Schau gestellter Konsum schon immer eine Demonstration von Macht. Gerade auf Instagram erhalten laute Inszenierungen Aufmerksamkeit und erhöhen so das „symbolische Kapital“.
Gegen diese Kraft des Irrationalen kommen die Argumente der Vernunft kaum an. Seit der Antike blieben alle Aufrufe zur Askese weitgehend erfolglos.
Statt einen tatsächlichen Bedarf zu stillen, ermöglicht es unser Wohlstand in Verbindung mit billiger Fast Fashion, dass wir heute vielfach nur noch kaufen „um unsere Stimmung zu modulieren“, wie Carl Tillessen in seinem Bestseller „Konsum“ schreibt. Ob aus Langeweile, als Belohnung oder zum Trost.
Der wirksame Weg
Der wirksamste Weg ist denkbar einfach: Kleidungsstücke deutlich länger zu tragen. Auch Secondhand-Kleidung ist eine Möglichkeit, sich ressourcenschonend einzukleiden und weiterhin Spaß an Mode zu haben. Das Geschäft mit Secondhand-Mode boomt. Doch die Gleichung von Secondhand und Nachhaltigkeit geht nur auf, wenn insgesamt nicht mehr Kleidung konsumiert wird. Denn die niedrigen Preise und das gute Gewissen verleiten schnell zu noch mehr Konsum, , dem sogenannten Rebound oder Bumerang-Effekt.
Europa Rekord
Wieviele Altkleider es in Deutschland gibt, ist unklar, da keine genauen Daten erfasst werden. Nach Berechnungen des Bundesverband Sekundärrohstoffe und Entsorgung (BVSE) bringen rund 85 Prozent der Deutschen ihre Altkleider zum Sammelcontainer: ein Rekord in Europa. So werden hierzulande pro Jahr knapp 1,3 Million Tonnen Altkleider in etwa 120.000 Containern gesammelt. Somit landen fast drei Viertel aller ungewollten Kleider bei Textilverwertern.
ZDF Dokumentation von 2018 über das Werk Bitterfeld-Wolfen des Textilrecyclers „Soex“ © Soex
Allein beim Marktführer Soex in Bitterfeld-Wolfen können jedes Jahr bis zu 100.000 Tonnen sortiert werden. Davon sind 10 Prozent neuwertig und werden in deutschen Secondhand Läden verkauft. Weitere 45 Prozent werden als Secondhand-Kleidung in mehr als 45 Ländern exportiert. 15 Prozent werden zu Putzlappen für die Industrie, 20 Prozent werden in der Reisserei in genau definierten Qualitäten zu Rohstoffen für Autohimmel, Isolier- und Füllstoffen, Malervlies oder für Kleiderbügel verarbeitet. Und die letzten 10 Prozent gelten als Abfall, von dem noch 3 Prozent an die Pappenindustrie verkauft werden. Die restlichen 7 Prozent müssen gegen Gebühr fachgerecht verbrannt werden. Allerdings verschieben sich die Anteile. Jedes Jahr landen mehr Textilien im Reisswolf oder der Verbrennungsanlage.
Wir haben keine Lösungen
Jahrzehntelang war das Geschäft mit Altkleidern so einträglich wie einfach gewesen. Die Verwerter wie Soex kauften Kommunen und karitativen Organisationen die gesammelten Altkleider ab, sortierten sie und exportierten das Gros als Secondhandware nach Osteuropa, in den Nahen Osten sowie Afrika. Die Nachfrage war viel höher als das Angebot.
Doch seit 2015 ist dieser Markt im Umbruch. Mehr Fast Fashion in den Sammlungen bedeutet eine deutlich schlechtere Qualität, so die BVSE-Studie von 2015. Da die Sortierer das Recycling der untragbaren Kleidung mit den Erlösen der hochwertigen Secondhandkleidung finanzieren, entstand eine prekäre Situation. Was gut ist für die Umwelt, verschärft die Krise der Textilsortierer.
Die einstige Spitzenware in den Sammlungen wird heute meist direkt von Privat an Privat über Internetplattformen oder über Online-Shops für Vintage-Mode verkauft. Dieses Geschäft wächst laut Global Data 21-mal so schnell wie die gesamte Modeindustrie auf prognostizierte 54 Milliarden Euro im Jahr 2024. Die Verbraucherpreise steigen stark, so dass schon von einer „Gentrifizierung von Secondhandmode“ gesprochen wird. Zugleich wehren sich viele afrikanische Länder zunehmend gegen den Import von Secondhandware. Zudem wird dort Kleidung aus China oft billiger verkauft als europäische Secondhand-Ware, auch wegen stark unterschiedlicher Zollgebühren.
Es quellen nicht nur die Kleiderschränke der Konsumenten über. Auch die Lagerhallen von Industrie und Handel sind mit überschüssiger Neuware und Retouren voll. Die Absatzmärkte sind hingegen übersättigt. Laut dem Spitzenverband Euratex gibt es keinen Plan, wohin wir in Europa mit künftig mehr als 5 Millionen Tonnen Altkleidern sollen. Diese Menge dürfte nochmals um geschätzte zwei Millionen Tonnen pro Jahr steigen, wenn ab dem 1. Januar 2025 das EU-Abfallrecht die getrennte Sammlung von Textilien vorschreibt. Dafür gibt es aktuell in Europa keine ausreichenden Sortier- und Verwertungskapazitäten. Zumal die EU ab 2023 den Export von Textilabfällen in Nicht-OECD-Länder verbieten will.
Es sind mehrere sich verstärkende Teufelskreise entstanden, aus denen es keinen Ausweg zu geben scheint. Sie sind für die Mode in ökologischer und sozialer Hinsicht so verheerend, dass die ersten Experten schon Bekleidungskontingente für jeden Bürger ins Gespräch bringen. Es ist wie in Goethes Zauberlehrling: Was als Segen anfing, wurde zur Ausgeburt der Hölle: „Die ich rief, die Geister, werd ich nun nicht los.“
Durch die Pandemie, Social Media und Games, Diskussionen über Diversität und Gender sowie neue Kunstformen und die US-Popkultur aber auch durch die Digitalisierung und Nachhaltigkeit befinden sich Werte und damit die Ästhetik in einem so starken Wandel, wie wohl seit den 1960er Jahren nicht mehr. Das gibt die Chance für eine ganz neue Mode. Und damit für neue Wertstoffketten.
Zum Teil II Optionen: Besser als das Gleiche in Grün
Joachim Schirrmacher
Nach seiner Lehre zum Einzelhandelskaufmann studierte er Designmanagement mit Schwerpunkten wie Ökologie oder Gender. Seit 1994 beschäftigt er sich in seiner Arbeit mit Nachhaltiger Mode. Er arbeitet seit über 20 Jahren als Autor (Chefredakteur Style in Progress, Tagesspiegel, NZZ), Sprecher (Copenhagen Business School, Goethe-Institut, HDS/L) und Kommunikationsexperte für Unternehmen wie Carroux Caffee, Freitag Lab AG, Messe München oder Retail Brand Services sowie Institutionen wie dem Auswärtigen Amt. Seit 2004 verantwortet er pro bono den European Fashion Award FASH der SDBI.DE www.schirrmacher.org
Über nachhaltige und faire Mode wird seit Jahrzehnten intensiv diskutiert. Alle reden von Kreislaufwirtschaft, und viele Modeunternehmen haben Sustainability-Projekte angekündigt. Doch die Realität ist mehr als ernüchternd. Nun will die Europäische Kommission mit einer umfangreichen Textilstrategie die Mode zur Nachhaltigkeit verpflichten.
Eine Analyse von Joachim Schirrmacher
Zum Teil II Optionen: Besser als das Gleiche in Grün
85 Prozent aller Unternehmen sehen Nachhaltigkeit als Unternehmensstrategie. Das liegt neben allem persönlichen Engagement von Frauen wie Antje von Dewitz und Männern wie Michael Otto auch daran, dass inzwischen fast alle größeren Modeunternehmen im Besitz von Investoren oder Aktiengesellschaften sind. Vieles ist daher ein Ankündigungsmarketing, das sich an die Öffentlichkeit richtet und die Shareholder abholen soll. Zumeist werden Vorzeigeprojekte in kleinen Stückzahlen aufgelegt. Das Kerngeschäft ändert sich hingegen kaum.
Circular Economy statt Recycling?
Besonders beliebt ist das Werben für eine Kreislaufwirtschaft mit Slogans wie „Recyceln Sie Mode“. Aus alt wird neu, ein perfektes Perpetuum Mobile: Regen fällt, fließt durch die Obstwiese und in einen Fluss, weiter ins Meer, verdunstet in den Himmel und fällt wieder. Nur zu gerne wollen wir es glauben.
Damit die Modeindustrie nicht nur redet will die Europäische Kommission sie jetzt zur Nachhaltigkeit verpflichten. Sie sagt damit der Fast Fashion und Überproduktion sowie dem Greenwashing den Kampf an. Ende März hat sie dazu eine umfangreiche und ehrgeizige „EU-Strategie für nachhaltige und kreislauffähige Textilien“ (EU-Textilstrategie) vorgestellt.
Bis 2030 sollen in der EU auf den Markt gebrachte Textilien langlebig und kreislauffähig gestaltet und unter Wahrung der sozialen Rechte und des Umweltschutzes hergestellt sein. Sie sollen dabei größtenteils aus Recyclingfasern bestehen und frei von umweltschädlichen Schadstoffen und Mikroplastik sein. Zudem soll die Kreislaufwirtschaft in der Mode florieren und über ausreichende Kapazitäten für ein Faser-zu-Faser-Recycling verfügen. Hersteller müssen künftig die Verantwortung für ihre Produkte vom Design bis zur Entsorgung übernehmen.
Von Null auf Hundert
Die Ziele sind extrem ehrgeizig, denn bislang ist die „Circular Economy“ in der Mode nur Vision. Einen echten Kreislauf, in dem Altkleider zu neuen Textilien werden, gibt es bisher nicht. Neben Secondhandkleidung ist das Recycling von Altkleidern, die nicht mehr getragen werden können, derzeit die einzige Lösung. Doch dieses Recycling ist eine Abwärtsspirale, kein Kreislauf. Jeans werden bestenfalls zu Viskosegarnen, die meisten Textilien jedoch zu Putzlappen für die Industrie, Vlies- und Isolierstoffen oder Pappe. Immerhin ein Fortschritt zum linearen Modell, bei dem die Alttextilien direkt in der Verbrennung oder auf einer Deponie landeten.
Viele andere Projekte sind Scheinlösungen. So stammt recyceltes Polyester in Kleidung von PET-Flaschen und nicht aus Polyesterkleidung aus dem Altkleider-Container. Daher muss für die Flaschenproduktion auch neues Polyester verwendet werden. Die EU-Kommission sieht dies als Irreführung der Verbraucher und als Verstoß gegen den geschlossenen Kreislauf für PET- Lebensmittelflaschen.
Und so sinnvoll ein Upcycling, also aus älteren Teilen neue Kleidung zu nähen, im privaten Bereich, für Kleinserien und vor allem für einen Bewusstseinswandel ist, bietet es keine industrielle Perspektive.
Biobasierte Garne aus Algen, Ananas- oder Bananenschalen, Blüten, CO2 oder Milch, Lebensmittelreste zum Färben von Textilien oder das biologisch abbaubare Stretchgarn Coreva stecken noch in den Kinderschuhen.
Die EU-Kommission ruft daher die Unternehmen auf, ihre Bemühungen auf das Faser-zu-Faser-Recycling zu konzentrieren. Derzeit liegt der Anteil unter einem Prozent, so die Ellen-MacArthur-Stiftung. Es gilt also eine „Lücke“ von 99 Prozent in nur acht Jahren zu schließen. Bislang gibt es nur wenige Forschungs- und Pilotprojekte. Und diese sind noch ganz am Anfang mit minimalen Produktionsmengen, die angekündigt wurden. Zu den wichtigsten Projekten zählen:
– Prozesssichere Materialerkennung (verschiedene Ansätze wie Chips circularity.ID)
– Optimiertes mechanisches Recycling mit längeren Fasern
– Chemisches Trennen von Polyester/Baumwolle (Re:wind, Resyntex mit I Collect und Soex, Uni Wien, Worn Again Technologies)
– Chemische Umwandlung von Baumwolle zu Viskose (Evrnu, re:newcell, Saxion, SaXcell, Södra, Lenzing)
– Trennung von Baumwoll/Elasthan (Re:Mix)
Keine Frage: Dies sind wichtige Fortschritte, und es gibt große Hoffnungen, dass aus dem Faser-zu-Faser-Recycling ein gigantisches Geschäft wird. Doch die Herausforderungen sind noch enorm: Der Energieaufwand z.B. für das Säubern und Entfärben ist sehr hoch. Der Mix verschiedener Polyesterarten ist problematisch. Elasthan oder Chemikalien in den Alttextilien beeinträchtigen den Prozess. Beispielsweise verstopfen sie die Düsen der Spinnmaschinen. Recyclingfasern sind zudem teurer als Primärrohstoffe.
Wo liegt das Problem?
Auf absehbare Zeit findet daher ein Recycling von Fasern zu neuen Kleidern, aufgrund technologischer Grenzen wie der Faserlänge, im großindustriellen Maßstab praktisch nicht statt. Eine Übersicht von 2021 zum Stand der Recycling-Technik der RWTH Aachen kommt sogar zu dem ernüchternden Fazit: „Recycling wird die Nachhaltigkeitsprobleme in der Textil-Industrie nicht lösen.“
Das Versprechen der Bioökonomie bzw. des Green Deal, wir könnten dank des technologischen Fortschritts mit reinem Gewissen so weiterleben wie bisher, erscheint also als Illusion.
Dabei geht es um unfassbare Mengen. Seit dem Jahr 2000 hat sich laut der Ellen-MacArthur-Stiftung der Konsum von Kleidung verdoppelt und die Tragezeit zudem halbiert. Da die Preise für Mode in der EU zwischen 1996 und 2018 inflationsbereinigt laut der EU-Textilstrategie um über 30 Prozent gesunken sind, sind Mengen aussagekräftiger als Umsätze, um sich die Dimensionen vor Augen zu führen.
Pro Jahr werden schätzungsweise statt einst 50 jetzt etwa 120 Milliarden Kleidungsstücke weltweit hergestellt. Greenpeace spricht sogar von rund 200 Milliarden. Davon sollen laut der Ellen MacArthur Stiftung 40 Prozent nicht verkauft worden sein.
Vom Gebrauch zum Verbrauch
In Deutschland wurden davon 2018 laut Statista ca. 4,7 Milliarden Kleidungsstücke verkauft, das sind im Durchschnitt 56 Teile für jeden – vom Baby bis zum Greis. Und das Produktionsvolumen von Kleidungsstücken steigt weiter jährlich um 2,7 Prozent an.
Frauen kaufen deutlich mehr Mode wie Männer: Laut einer Studie der Hochschule Macromedia von 2021 besitzen Frauen im Schnitt 175 und Männer 105,4 Kleidungstücke. Etwa ein Drittel davon wurde in den letzten 12 Monaten gekauft.
Kleidung wird laut der Initiative der Bundesregierung „Grüner Knopf“ im Schnitt viermal getragen, vieles gar nicht. So stehen drei Lieblingsteilen drei sogenannte Schrankleichen gegenüber.
Der Gebrauch wurde zu einem rapiden Verbrauch von Kleidung. Und das nicht nur in Deutschland, Europa oder den USA. Mit dem Anwachsen der Weltbevölkerung bis 2030 auf mehr als 8,5 Milliarden Menschen und steigendem Haushaltseinkommen auch in China, Indien oder Brasilien.
Überfluss bis zum Überdruß
Fast Fashion, also preisgünstige Kleidung oft minderer Qualität, gilt als Hauptverursacher des Überangebots an Mode. Zara brachte als eines der ersten Unternehmen alle zwei Wochen neue Modelle auf den Markt, statt ein- oder zweimal pro Saison. Wer keine Marktanteile verlieren wollte, musste mitziehen. Die Fast Fashion war geboren und wurde als „Demokratisierung der Mode“ gefeiert. Signalwirkung hatte 2004 die Kollektion „Karl Lagerfeld by H&M“. Einige Unternehmen produzieren gar bis zu 52 Kollektionen im Jahr. Oft in Qualitäten, die selbst für eine Weiterverwendung als Putzlappen zu schlecht sind. Anbieter wie Shein aus China bieten täglich Neuheiten; diese werden überwiegend von Teenies in aller Welt gekauft, also der Generation „Fridays for Future“. Mit wechselnden Moden hat die Fast Fashion nur sehr bedingt zu tun. Es geht vor allem um Konsumanreize. Stores und Medien brauchen schließlich immer neue Impulse.
Berauschung durch Betäubung
Keine Frage, es ist ein großer Gewinn, dass Dank des industriellen Fortschritts „Mode für Millionen“ möglich geworden ist. So entwarf Karl Lagerfeld von 1987 bis 1995 auch Mode für Klaus Steilmann, dem Gründer der Stiftung, die den European Fashion Award FASH auslobt.
Doch die Demokratisierung der Mode hat sich als ein Überkonsum für alle herausgestellt. Der Journalist Gert Scobel analysiert: „In Wirklichkeit handelt es sich nicht um echten Luxus, sondern um seine Simulierung [… die] leer läuft und immer schneller durch neuen Konsum angeregt werden muss.“
Letzlich wirkt der Überkonsum von Mode und Instagram wie eine Narkose. Sie betäubt Langeweile, mangelndes Selbstbewusstsein und oft wohl auch eine unbewusste religiöse Sehnsucht und Orientierungssuche.
Mit etwas Abstand erkennt man schnell, dass der heutige westliche Konsumlevel, den viele für normal halten, ein Ausnahmezustand in der Geschichte ist. Es gibt kein Menschenrecht auf grenzenlosen Konsum. Zumal dies auf Kosten der Umwelt, der Arbeiterinnen und der kommenden Generationen geschieht.
Wie konnte es soweit kommen?
Ein wesentlicher Auslöser des ungeheuren Aufstiegs der Fast Fashion ist das Auslaufen jedweder Handelsbeschränkungen mit dem Fall des Welttextilabkommens (WTO) zum Ende 2004. 1974 waren die Importquoten zum Schutz von Arbeitsplätzen im Westen vor Billigimporten eingeführt worden. Die Abschaffung und Öffnung der Märkte war in Zeiten des Neoliberalismus von der Politik gewollt. Die globale Beschaffung wurde in der Folge neu kalibriert. Die Preise sanken stark. Allein 5 bis 10 Prozent entfielen durch den Wegfall der Kosten für die Quoten. Ganze Länder, wie in Afrika, verloren ihre Textilindustrie. Die Exporte stiegen schon 2005 so stark, dass China auf Druck der EU die Exporte freiwillig begrenzte. Seit der Handel nicht mehr durch Quoten begrenzt wurde, legten die Fast Fashion Anbieter und Textil-Discounter ein ungeheures Wachstum an den Tag.
Brandbeschleuniger
Das Aufkommen des Onlinehandels von Amazon bis Zalando und vor allem der inzwischen fast zum Standard gewordenen kostenlosen Retouren führte zu Rücksendequoten für Mode von bis zu 60 Prozent. „Schrei vor Glück – oder schick‘s zurück“ – auch dies verstärkte den Modekonsum maßgeblich.
Zeitgleich stieg Instagram in kürzester Zeit zum heute dominanten Mode-Medium auf und wirkt wie ein zusätzlicher Brandbeschleuniger. Laut einer Studie des Netzwerks LTK tätigen 42 Prozent der „Gen Z“ den Großteil ihrer Einkäufe über Soziale Medien wie Instagram oder TikTok. Die Folge der billigen Preise und ständig neuen Konsumanreize: Millionen kaufen zu viel Kleidung, zu oft und meist viel zu unüberlegt.
Die Kraft des Irrationalen
Warum kaufen wir soviel? Wir wissen es wohl selber nicht. Und wollen nicht darüber nachdenken. Marktforscher Ralph Ohnemus erklärt die mangelnde Konsequenz mit Hinweis auf den Nobelpreisträger Daniel Kahnemann so: „Wir sind faul und wollen nicht zu viel denken.“ Statt bewusst zu konsumieren, folgen wir einfach unseren Emotionen. Denn beim logischen Denken braucht unser Gehirn viel Energie.
Schon das Luxurieren der Natur – etwa beim Pfau – legt nahe, dass das Streben nach Differenz zur Evolution gehört und dass die Lust an der Verschwendung in der Triebstruktur wurzelt. Und so war ein zur Schau gestellter Konsum schon immer eine Demonstration von Macht. Gerade auf Instagram erhalten laute Inszenierungen Aufmerksamkeit und erhöhen so das „symbolische Kapital“.
Gegen diese Kraft des Irrationalen kommen die Argumente der Vernunft kaum an. Seit der Antike blieben alle Aufrufe zur Askese weitgehend erfolglos.
Statt einen tatsächlichen Bedarf zu stillen, ermöglicht es unser Wohlstand in Verbindung mit billiger Fast Fashion, dass wir heute vielfach nur noch kaufen „um unsere Stimmung zu modulieren“, wie Carl Tillessen in seinem Bestseller „Konsum“ schreibt. Ob aus Langeweile, als Belohnung oder zum Trost.
Der wirksame Weg
Der wirksamste Weg ist denkbar einfach: Kleidungsstücke deutlich länger zu tragen. Auch Secondhand-Kleidung ist eine Möglichkeit, sich ressourcenschonend einzukleiden und weiterhin Spaß an Mode zu haben. Das Geschäft mit Secondhand-Mode boomt. Doch die Gleichung von Secondhand und Nachhaltigkeit geht nur auf, wenn insgesamt nicht mehr Kleidung konsumiert wird. Denn die niedrigen Preise und das gute Gewissen verleiten schnell zu noch mehr Konsum, , dem sogenannten Rebound oder Bumerang-Effekt.
Europa Rekord
Wieviele Altkleider es in Deutschland gibt, ist unklar, da keine genauen Daten erfasst werden. Nach Berechnungen des Bundesverband Sekundärrohstoffe und Entsorgung (BVSE) bringen rund 85 Prozent der Deutschen ihre Altkleider zum Sammelcontainer: ein Rekord in Europa. So werden hierzulande pro Jahr knapp 1,3 Million Tonnen Altkleider in etwa 120.000 Containern gesammelt. Somit landen fast drei Viertel aller ungewollten Kleider bei Textilverwertern.
ZDF Dokumentation von 2018 über das Werk Bitterfeld-Wolfen des Textilrecyclers „Soex“ © Soex
Allein beim Marktführer Soex in Bitterfeld-Wolfen können jedes Jahr bis zu 100.000 Tonnen sortiert werden. Davon sind 10 Prozent neuwertig und werden in deutschen Secondhand Läden verkauft. Weitere 45 Prozent werden als Secondhand-Kleidung in mehr als 45 Ländern exportiert. 15 Prozent werden zu Putzlappen für die Industrie, 20 Prozent werden in der Reisserei in genau definierten Qualitäten zu Rohstoffen für Autohimmel, Isolier- und Füllstoffen, Malervlies oder für Kleiderbügel verarbeitet. Und die letzten 10 Prozent gelten als Abfall, von dem noch 3 Prozent an die Pappenindustrie verkauft werden. Die restlichen 7 Prozent müssen gegen Gebühr fachgerecht verbrannt werden. Allerdings verschieben sich die Anteile. Jedes Jahr landen mehr Textilien im Reisswolf oder der Verbrennungsanlage.
Wir haben keine Lösungen
Jahrzehntelang war das Geschäft mit Altkleidern so einträglich wie einfach gewesen. Die Verwerter wie Soex kauften Kommunen und karitativen Organisationen die gesammelten Altkleider ab, sortierten sie und exportierten das Gros als Secondhandware nach Osteuropa, in den Nahen Osten sowie Afrika. Die Nachfrage war viel höher als das Angebot.
Doch seit 2015 ist dieser Markt im Umbruch. Mehr Fast Fashion in den Sammlungen bedeutet eine deutlich schlechtere Qualität, so die BVSE-Studie von 2015. Da die Sortierer das Recycling der untragbaren Kleidung mit den Erlösen der hochwertigen Secondhandkleidung finanzieren, entstand eine prekäre Situation. Was gut ist für die Umwelt, verschärft die Krise der Textilsortierer.
Die einstige Spitzenware in den Sammlungen wird heute meist direkt von Privat an Privat über Internetplattformen oder über Online-Shops für Vintage-Mode verkauft. Dieses Geschäft wächst laut Global Data 21-mal so schnell wie die gesamte Modeindustrie auf prognostizierte 54 Milliarden Euro im Jahr 2024. Die Verbraucherpreise steigen stark, so dass schon von einer „Gentrifizierung von Secondhandmode“ gesprochen wird. Zugleich wehren sich viele afrikanische Länder zunehmend gegen den Import von Secondhandware. Zudem wird dort Kleidung aus China oft billiger verkauft als europäische Secondhand-Ware, auch wegen stark unterschiedlicher Zollgebühren.
Es quellen nicht nur die Kleiderschränke der Konsumenten über. Auch die Lagerhallen von Industrie und Handel sind mit überschüssiger Neuware und Retouren voll. Die Absatzmärkte sind hingegen übersättigt. Laut dem Spitzenverband Euratex gibt es keinen Plan, wohin wir in Europa mit künftig mehr als 5 Millionen Tonnen Altkleidern sollen. Diese Menge dürfte nochmals um geschätzte zwei Millionen Tonnen pro Jahr steigen, wenn ab dem 1. Januar 2025 das EU-Abfallrecht die getrennte Sammlung von Textilien vorschreibt. Dafür gibt es aktuell in Europa keine ausreichenden Sortier- und Verwertungskapazitäten. Zumal die EU ab 2023 den Export von Textilabfällen in Nicht-OECD-Länder verbieten will.
Es sind mehrere sich verstärkende Teufelskreise entstanden, aus denen es keinen Ausweg zu geben scheint. Sie sind für die Mode in ökologischer und sozialer Hinsicht so verheerend, dass die ersten Experten schon Bekleidungskontingente für jeden Bürger ins Gespräch bringen. Es ist wie in Goethes Zauberlehrling: Was als Segen anfing, wurde zur Ausgeburt der Hölle: „Die ich rief, die Geister, werd ich nun nicht los.“
Durch die Pandemie, Social Media und Games, Diskussionen über Diversität und Gender sowie neue Kunstformen und die US-Popkultur aber auch durch die Digitalisierung und Nachhaltigkeit befinden sich Werte und damit die Ästhetik in einem so starken Wandel, wie wohl seit den 1960er Jahren nicht mehr. Das gibt die Chance für eine ganz neue Mode. Und damit für neue Wertstoffketten.
Zum Teil II Optionen: Besser als das Gleiche in Grün
Joachim Schirrmacher
Nach seiner Lehre zum Einzelhandelskaufmann studierte er Designmanagement mit Schwerpunkten wie Ökologie oder Gender. Seit 1994 beschäftigt er sich in seiner Arbeit mit Nachhaltiger Mode. Er arbeitet seit über 20 Jahren als Autor (Chefredakteur Style in Progress, Tagesspiegel, NZZ), Sprecher (Copenhagen Business School, Goethe-Institut, HDS/L) und Kommunikationsexperte für Unternehmen wie Carroux Caffee, Freitag Lab AG, Messe München oder Retail Brand Services sowie Institutionen wie dem Auswärtigen Amt. Seit 2004 verantwortet er pro bono den European Fashion Award FASH der SDBI.DE www.schirrmacher.org
Über nachhaltige und faire Mode wird seit Jahrzehnten intensiv diskutiert. Alle reden von Kreislaufwirtschaft, und viele Modeunternehmen haben Sustainability-Projekte angekündigt. Doch die Realität ist mehr als ernüchternd. Nun will die Europäische Kommission mit einer umfangreichen Textilstrategie die Mode zur Nachhaltigkeit verpflichten.
Eine Analyse von Joachim Schirrmacher
Zum Teil II Optionen: Besser als das Gleiche in Grün
85 Prozent aller Unternehmen sehen Nachhaltigkeit als Unternehmensstrategie. Das liegt neben allem persönlichen Engagement von Frauen wie Antje von Dewitz und Männern wie Michael Otto auch daran, dass inzwischen fast alle größeren Modeunternehmen im Besitz von Investoren oder Aktiengesellschaften sind. Vieles ist daher ein Ankündigungsmarketing, das sich an die Öffentlichkeit richtet und die Shareholder abholen soll. Zumeist werden Vorzeigeprojekte in kleinen Stückzahlen aufgelegt. Das Kerngeschäft ändert sich hingegen kaum.
Circular Economy statt Recycling?
Besonders beliebt ist das Werben für eine Kreislaufwirtschaft mit Slogans wie „Recyceln Sie Mode“. Aus alt wird neu, ein perfektes Perpetuum Mobile: Regen fällt, fließt durch die Obstwiese und in einen Fluss, weiter ins Meer, verdunstet in den Himmel und fällt wieder. Nur zu gerne wollen wir es glauben.
Damit die Modeindustrie nicht nur redet will die Europäische Kommission sie jetzt zur Nachhaltigkeit verpflichten. Sie sagt damit der Fast Fashion und Überproduktion sowie dem Greenwashing den Kampf an. Ende März hat sie dazu eine umfangreiche und ehrgeizige „EU-Strategie für nachhaltige und kreislauffähige Textilien“ (EU-Textilstrategie) vorgestellt.
Bis 2030 sollen in der EU auf den Markt gebrachte Textilien langlebig und kreislauffähig gestaltet und unter Wahrung der sozialen Rechte und des Umweltschutzes hergestellt sein. Sie sollen dabei größtenteils aus Recyclingfasern bestehen und frei von umweltschädlichen Schadstoffen und Mikroplastik sein. Zudem soll die Kreislaufwirtschaft in der Mode florieren und über ausreichende Kapazitäten für ein Faser-zu-Faser-Recycling verfügen. Hersteller müssen künftig die Verantwortung für ihre Produkte vom Design bis zur Entsorgung übernehmen.
Von Null auf Hundert
Die Ziele sind extrem ehrgeizig, denn bislang ist die „Circular Economy“ in der Mode nur Vision. Einen echten Kreislauf, in dem Altkleider zu neuen Textilien werden, gibt es bisher nicht. Neben Secondhandkleidung ist das Recycling von Altkleidern, die nicht mehr getragen werden können, derzeit die einzige Lösung. Doch dieses Recycling ist eine Abwärtsspirale, kein Kreislauf. Jeans werden bestenfalls zu Viskosegarnen, die meisten Textilien jedoch zu Putzlappen für die Industrie, Vlies- und Isolierstoffen oder Pappe. Immerhin ein Fortschritt zum linearen Modell, bei dem die Alttextilien direkt in der Verbrennung oder auf einer Deponie landeten.
Viele andere Projekte sind Scheinlösungen. So stammt recyceltes Polyester in Kleidung von PET-Flaschen und nicht aus Polyesterkleidung aus dem Altkleider-Container. Daher muss für die Flaschenproduktion auch neues Polyester verwendet werden. Die EU-Kommission sieht dies als Irreführung der Verbraucher und als Verstoß gegen den geschlossenen Kreislauf für PET- Lebensmittelflaschen.
Und so sinnvoll ein Upcycling, also aus älteren Teilen neue Kleidung zu nähen, im privaten Bereich, für Kleinserien und vor allem für einen Bewusstseinswandel ist, bietet es keine industrielle Perspektive.
Biobasierte Garne aus Algen, Ananas- oder Bananenschalen, Blüten, CO2 oder Milch, Lebensmittelreste zum Färben von Textilien oder das biologisch abbaubare Stretchgarn Coreva stecken noch in den Kinderschuhen.
Die EU-Kommission ruft daher die Unternehmen auf, ihre Bemühungen auf das Faser-zu-Faser-Recycling zu konzentrieren. Derzeit liegt der Anteil unter einem Prozent, so die Ellen-MacArthur-Stiftung. Es gilt also eine „Lücke“ von 99 Prozent in nur acht Jahren zu schließen. Bislang gibt es nur wenige Forschungs- und Pilotprojekte. Und diese sind noch ganz am Anfang mit minimalen Produktionsmengen, die angekündigt wurden. Zu den wichtigsten Projekten zählen:
– Prozesssichere Materialerkennung (verschiedene Ansätze wie Chips circularity.ID)
– Optimiertes mechanisches Recycling mit längeren Fasern
– Chemisches Trennen von Polyester/Baumwolle (Re:wind, Resyntex mit I Collect und Soex, Uni Wien, Worn Again Technologies)
– Chemische Umwandlung von Baumwolle zu Viskose (Evrnu, re:newcell, Saxion, SaXcell, Södra, Lenzing)
– Trennung von Baumwoll/Elasthan (Re:Mix)
Keine Frage: Dies sind wichtige Fortschritte, und es gibt große Hoffnungen, dass aus dem Faser-zu-Faser-Recycling ein gigantisches Geschäft wird. Doch die Herausforderungen sind noch enorm: Der Energieaufwand z.B. für das Säubern und Entfärben ist sehr hoch. Der Mix verschiedener Polyesterarten ist problematisch. Elasthan oder Chemikalien in den Alttextilien beeinträchtigen den Prozess. Beispielsweise verstopfen sie die Düsen der Spinnmaschinen. Recyclingfasern sind zudem teurer als Primärrohstoffe.
Wo liegt das Problem?
Auf absehbare Zeit findet daher ein Recycling von Fasern zu neuen Kleidern, aufgrund technologischer Grenzen wie der Faserlänge, im großindustriellen Maßstab praktisch nicht statt. Eine Übersicht von 2021 zum Stand der Recycling-Technik der RWTH Aachen kommt sogar zu dem ernüchternden Fazit: „Recycling wird die Nachhaltigkeitsprobleme in der Textil-Industrie nicht lösen.“
Das Versprechen der Bioökonomie bzw. des Green Deal, wir könnten dank des technologischen Fortschritts mit reinem Gewissen so weiterleben wie bisher, erscheint also als Illusion.
Dabei geht es um unfassbare Mengen. Seit dem Jahr 2000 hat sich laut der Ellen-MacArthur-Stiftung der Konsum von Kleidung verdoppelt und die Tragezeit zudem halbiert. Da die Preise für Mode in der EU zwischen 1996 und 2018 inflationsbereinigt laut der EU-Textilstrategie um über 30 Prozent gesunken sind, sind Mengen aussagekräftiger als Umsätze, um sich die Dimensionen vor Augen zu führen.
Pro Jahr werden schätzungsweise statt einst 50 jetzt etwa 120 Milliarden Kleidungsstücke weltweit hergestellt. Greenpeace spricht sogar von rund 200 Milliarden. Davon sollen laut der Ellen MacArthur Stiftung 40 Prozent nicht verkauft worden sein.
Vom Gebrauch zum Verbrauch
In Deutschland wurden davon 2018 laut Statista ca. 4,7 Milliarden Kleidungsstücke verkauft, das sind im Durchschnitt 56 Teile für jeden – vom Baby bis zum Greis. Und das Produktionsvolumen von Kleidungsstücken steigt weiter jährlich um 2,7 Prozent an.
Frauen kaufen deutlich mehr Mode wie Männer: Laut einer Studie der Hochschule Macromedia von 2021 besitzen Frauen im Schnitt 175 und Männer 105,4 Kleidungstücke. Etwa ein Drittel davon wurde in den letzten 12 Monaten gekauft.
Kleidung wird laut der Initiative der Bundesregierung „Grüner Knopf“ im Schnitt viermal getragen, vieles gar nicht. So stehen drei Lieblingsteilen drei sogenannte Schrankleichen gegenüber.
Der Gebrauch wurde zu einem rapiden Verbrauch von Kleidung. Und das nicht nur in Deutschland, Europa oder den USA. Mit dem Anwachsen der Weltbevölkerung bis 2030 auf mehr als 8,5 Milliarden Menschen und steigendem Haushaltseinkommen auch in China, Indien oder Brasilien.
Überfluss bis zum Überdruß
Fast Fashion, also preisgünstige Kleidung oft minderer Qualität, gilt als Hauptverursacher des Überangebots an Mode. Zara brachte als eines der ersten Unternehmen alle zwei Wochen neue Modelle auf den Markt, statt ein- oder zweimal pro Saison. Wer keine Marktanteile verlieren wollte, musste mitziehen. Die Fast Fashion war geboren und wurde als „Demokratisierung der Mode“ gefeiert. Signalwirkung hatte 2004 die Kollektion „Karl Lagerfeld by H&M“. Einige Unternehmen produzieren gar bis zu 52 Kollektionen im Jahr. Oft in Qualitäten, die selbst für eine Weiterverwendung als Putzlappen zu schlecht sind. Anbieter wie Shein aus China bieten täglich Neuheiten; diese werden überwiegend von Teenies in aller Welt gekauft, also der Generation „Fridays for Future“. Mit wechselnden Moden hat die Fast Fashion nur sehr bedingt zu tun. Es geht vor allem um Konsumanreize. Stores und Medien brauchen schließlich immer neue Impulse.
Berauschung durch Betäubung
Keine Frage, es ist ein großer Gewinn, dass Dank des industriellen Fortschritts „Mode für Millionen“ möglich geworden ist. So entwarf Karl Lagerfeld von 1987 bis 1995 auch Mode für Klaus Steilmann, dem Gründer der Stiftung, die den European Fashion Award FASH auslobt.
Doch die Demokratisierung der Mode hat sich als ein Überkonsum für alle herausgestellt. Der Journalist Gert Scobel analysiert: „In Wirklichkeit handelt es sich nicht um echten Luxus, sondern um seine Simulierung [… die] leer läuft und immer schneller durch neuen Konsum angeregt werden muss.“
Letzlich wirkt der Überkonsum von Mode und Instagram wie eine Narkose. Sie betäubt Langeweile, mangelndes Selbstbewusstsein und oft wohl auch eine unbewusste religiöse Sehnsucht und Orientierungssuche.
Mit etwas Abstand erkennt man schnell, dass der heutige westliche Konsumlevel, den viele für normal halten, ein Ausnahmezustand in der Geschichte ist. Es gibt kein Menschenrecht auf grenzenlosen Konsum. Zumal dies auf Kosten der Umwelt, der Arbeiterinnen und der kommenden Generationen geschieht.
Wie konnte es soweit kommen?
Ein wesentlicher Auslöser des ungeheuren Aufstiegs der Fast Fashion ist das Auslaufen jedweder Handelsbeschränkungen mit dem Fall des Welttextilabkommens (WTO) zum Ende 2004. 1974 waren die Importquoten zum Schutz von Arbeitsplätzen im Westen vor Billigimporten eingeführt worden. Die Abschaffung und Öffnung der Märkte war in Zeiten des Neoliberalismus von der Politik gewollt. Die globale Beschaffung wurde in der Folge neu kalibriert. Die Preise sanken stark. Allein 5 bis 10 Prozent entfielen durch den Wegfall der Kosten für die Quoten. Ganze Länder, wie in Afrika, verloren ihre Textilindustrie. Die Exporte stiegen schon 2005 so stark, dass China auf Druck der EU die Exporte freiwillig begrenzte. Seit der Handel nicht mehr durch Quoten begrenzt wurde, legten die Fast Fashion Anbieter und Textil-Discounter ein ungeheures Wachstum an den Tag.
Brandbeschleuniger
Das Aufkommen des Onlinehandels von Amazon bis Zalando und vor allem der inzwischen fast zum Standard gewordenen kostenlosen Retouren führte zu Rücksendequoten für Mode von bis zu 60 Prozent. „Schrei vor Glück – oder schick‘s zurück“ – auch dies verstärkte den Modekonsum maßgeblich.
Zeitgleich stieg Instagram in kürzester Zeit zum heute dominanten Mode-Medium auf und wirkt wie ein zusätzlicher Brandbeschleuniger. Laut einer Studie des Netzwerks LTK tätigen 42 Prozent der „Gen Z“ den Großteil ihrer Einkäufe über Soziale Medien wie Instagram oder TikTok. Die Folge der billigen Preise und ständig neuen Konsumanreize: Millionen kaufen zu viel Kleidung, zu oft und meist viel zu unüberlegt.
Die Kraft des Irrationalen
Warum kaufen wir soviel? Wir wissen es wohl selber nicht. Und wollen nicht darüber nachdenken. Marktforscher Ralph Ohnemus erklärt die mangelnde Konsequenz mit Hinweis auf den Nobelpreisträger Daniel Kahnemann so: „Wir sind faul und wollen nicht zu viel denken.“ Statt bewusst zu konsumieren, folgen wir einfach unseren Emotionen. Denn beim logischen Denken braucht unser Gehirn viel Energie.
Schon das Luxurieren der Natur – etwa beim Pfau – legt nahe, dass das Streben nach Differenz zur Evolution gehört und dass die Lust an der Verschwendung in der Triebstruktur wurzelt. Und so war ein zur Schau gestellter Konsum schon immer eine Demonstration von Macht. Gerade auf Instagram erhalten laute Inszenierungen Aufmerksamkeit und erhöhen so das „symbolische Kapital“.
Gegen diese Kraft des Irrationalen kommen die Argumente der Vernunft kaum an. Seit der Antike blieben alle Aufrufe zur Askese weitgehend erfolglos.
Statt einen tatsächlichen Bedarf zu stillen, ermöglicht es unser Wohlstand in Verbindung mit billiger Fast Fashion, dass wir heute vielfach nur noch kaufen „um unsere Stimmung zu modulieren“, wie Carl Tillessen in seinem Bestseller „Konsum“ schreibt. Ob aus Langeweile, als Belohnung oder zum Trost.
Der wirksame Weg
Der wirksamste Weg ist denkbar einfach: Kleidungsstücke deutlich länger zu tragen. Auch Secondhand-Kleidung ist eine Möglichkeit, sich ressourcenschonend einzukleiden und weiterhin Spaß an Mode zu haben. Das Geschäft mit Secondhand-Mode boomt. Doch die Gleichung von Secondhand und Nachhaltigkeit geht nur auf, wenn insgesamt nicht mehr Kleidung konsumiert wird. Denn die niedrigen Preise und das gute Gewissen verleiten schnell zu noch mehr Konsum, , dem sogenannten Rebound oder Bumerang-Effekt.
Europa Rekord
Wieviele Altkleider es in Deutschland gibt, ist unklar, da keine genauen Daten erfasst werden. Nach Berechnungen des Bundesverband Sekundärrohstoffe und Entsorgung (BVSE) bringen rund 85 Prozent der Deutschen ihre Altkleider zum Sammelcontainer: ein Rekord in Europa. So werden hierzulande pro Jahr knapp 1,3 Million Tonnen Altkleider in etwa 120.000 Containern gesammelt. Somit landen fast drei Viertel aller ungewollten Kleider bei Textilverwertern.
ZDF Dokumentation von 2018 über das Werk Bitterfeld-Wolfen des Textilrecyclers „Soex“ © Soex
Allein beim Marktführer Soex in Bitterfeld-Wolfen können jedes Jahr bis zu 100.000 Tonnen sortiert werden. Davon sind 10 Prozent neuwertig und werden in deutschen Secondhand Läden verkauft. Weitere 45 Prozent werden als Secondhand-Kleidung in mehr als 45 Ländern exportiert. 15 Prozent werden zu Putzlappen für die Industrie, 20 Prozent werden in der Reisserei in genau definierten Qualitäten zu Rohstoffen für Autohimmel, Isolier- und Füllstoffen, Malervlies oder für Kleiderbügel verarbeitet. Und die letzten 10 Prozent gelten als Abfall, von dem noch 3 Prozent an die Pappenindustrie verkauft werden. Die restlichen 7 Prozent müssen gegen Gebühr fachgerecht verbrannt werden. Allerdings verschieben sich die Anteile. Jedes Jahr landen mehr Textilien im Reisswolf oder der Verbrennungsanlage.
Wir haben keine Lösungen
Jahrzehntelang war das Geschäft mit Altkleidern so einträglich wie einfach gewesen. Die Verwerter wie Soex kauften Kommunen und karitativen Organisationen die gesammelten Altkleider ab, sortierten sie und exportierten das Gros als Secondhandware nach Osteuropa, in den Nahen Osten sowie Afrika. Die Nachfrage war viel höher als das Angebot.
Doch seit 2015 ist dieser Markt im Umbruch. Mehr Fast Fashion in den Sammlungen bedeutet eine deutlich schlechtere Qualität, so die BVSE-Studie von 2015. Da die Sortierer das Recycling der untragbaren Kleidung mit den Erlösen der hochwertigen Secondhandkleidung finanzieren, entstand eine prekäre Situation. Was gut ist für die Umwelt, verschärft die Krise der Textilsortierer.
Die einstige Spitzenware in den Sammlungen wird heute meist direkt von Privat an Privat über Internetplattformen oder über Online-Shops für Vintage-Mode verkauft. Dieses Geschäft wächst laut Global Data 21-mal so schnell wie die gesamte Modeindustrie auf prognostizierte 54 Milliarden Euro im Jahr 2024. Die Verbraucherpreise steigen stark, so dass schon von einer „Gentrifizierung von Secondhandmode“ gesprochen wird. Zugleich wehren sich viele afrikanische Länder zunehmend gegen den Import von Secondhandware. Zudem wird dort Kleidung aus China oft billiger verkauft als europäische Secondhand-Ware, auch wegen stark unterschiedlicher Zollgebühren.
Es quellen nicht nur die Kleiderschränke der Konsumenten über. Auch die Lagerhallen von Industrie und Handel sind mit überschüssiger Neuware und Retouren voll. Die Absatzmärkte sind hingegen übersättigt. Laut dem Spitzenverband Euratex gibt es keinen Plan, wohin wir in Europa mit künftig mehr als 5 Millionen Tonnen Altkleidern sollen. Diese Menge dürfte nochmals um geschätzte zwei Millionen Tonnen pro Jahr steigen, wenn ab dem 1. Januar 2025 das EU-Abfallrecht die getrennte Sammlung von Textilien vorschreibt. Dafür gibt es aktuell in Europa keine ausreichenden Sortier- und Verwertungskapazitäten. Zumal die EU ab 2023 den Export von Textilabfällen in Nicht-OECD-Länder verbieten will.
Es sind mehrere sich verstärkende Teufelskreise entstanden, aus denen es keinen Ausweg zu geben scheint. Sie sind für die Mode in ökologischer und sozialer Hinsicht so verheerend, dass die ersten Experten schon Bekleidungskontingente für jeden Bürger ins Gespräch bringen. Es ist wie in Goethes Zauberlehrling: Was als Segen anfing, wurde zur Ausgeburt der Hölle: „Die ich rief, die Geister, werd ich nun nicht los.“
Durch die Pandemie, Social Media und Games, Diskussionen über Diversität und Gender sowie neue Kunstformen und die US-Popkultur aber auch durch die Digitalisierung und Nachhaltigkeit befinden sich Werte und damit die Ästhetik in einem so starken Wandel, wie wohl seit den 1960er Jahren nicht mehr. Das gibt die Chance für eine ganz neue Mode. Und damit für neue Wertstoffketten.
Zum Teil II Optionen: Besser als das Gleiche in Grün
Joachim Schirrmacher
Nach seiner Lehre zum Einzelhandelskaufmann studierte er Designmanagement mit Schwerpunkten wie Ökologie oder Gender. Seit 1994 beschäftigt er sich in seiner Arbeit mit Nachhaltiger Mode. Er arbeitet seit über 20 Jahren als Autor (Chefredakteur Style in Progress, Tagesspiegel, NZZ), Sprecher (Copenhagen Business School, Goethe-Institut, HDS/L) und Kommunikationsexperte für Unternehmen wie Carroux Caffee, Freitag Lab AG, Messe München oder Retail Brand Services sowie Institutionen wie dem Auswärtigen Amt. Seit 2004 verantwortet er pro bono den European Fashion Award FASH der SDBI.DE www.schirrmacher.org
Über nachhaltige und faire Mode wird seit Jahrzehnten intensiv diskutiert. Alle reden von Kreislaufwirtschaft, und viele Modeunternehmen haben Sustainability-Projekte angekündigt. Doch die Realität ist mehr als ernüchternd. Nun will die Europäische Kommission mit einer umfangreichen Textilstrategie die Mode zur Nachhaltigkeit verpflichten.
Eine Analyse von Joachim Schirrmacher
Zum Teil II Optionen: Besser als das Gleiche in Grün
85 Prozent aller Unternehmen sehen Nachhaltigkeit als Unternehmensstrategie. Das liegt neben allem persönlichen Engagement von Frauen wie Antje von Dewitz und Männern wie Michael Otto auch daran, dass inzwischen fast alle größeren Modeunternehmen im Besitz von Investoren oder Aktiengesellschaften sind. Vieles ist daher ein Ankündigungsmarketing, das sich an die Öffentlichkeit richtet und die Shareholder abholen soll. Zumeist werden Vorzeigeprojekte in kleinen Stückzahlen aufgelegt. Das Kerngeschäft ändert sich hingegen kaum.
Circular Economy statt Recycling?
Besonders beliebt ist das Werben für eine Kreislaufwirtschaft mit Slogans wie „Recyceln Sie Mode“. Aus alt wird neu, ein perfektes Perpetuum Mobile: Regen fällt, fließt durch die Obstwiese und in einen Fluss, weiter ins Meer, verdunstet in den Himmel und fällt wieder. Nur zu gerne wollen wir es glauben.
Damit die Modeindustrie nicht nur redet will die Europäische Kommission sie jetzt zur Nachhaltigkeit verpflichten. Sie sagt damit der Fast Fashion und Überproduktion sowie dem Greenwashing den Kampf an. Ende März hat sie dazu eine umfangreiche und ehrgeizige „EU-Strategie für nachhaltige und kreislauffähige Textilien“ (EU-Textilstrategie) vorgestellt.
Bis 2030 sollen in der EU auf den Markt gebrachte Textilien langlebig und kreislauffähig gestaltet und unter Wahrung der sozialen Rechte und des Umweltschutzes hergestellt sein. Sie sollen dabei größtenteils aus Recyclingfasern bestehen und frei von umweltschädlichen Schadstoffen und Mikroplastik sein. Zudem soll die Kreislaufwirtschaft in der Mode florieren und über ausreichende Kapazitäten für ein Faser-zu-Faser-Recycling verfügen. Hersteller müssen künftig die Verantwortung für ihre Produkte vom Design bis zur Entsorgung übernehmen.
Von Null auf Hundert
Die Ziele sind extrem ehrgeizig, denn bislang ist die „Circular Economy“ in der Mode nur Vision. Einen echten Kreislauf, in dem Altkleider zu neuen Textilien werden, gibt es bisher nicht. Neben Secondhandkleidung ist das Recycling von Altkleidern, die nicht mehr getragen werden können, derzeit die einzige Lösung. Doch dieses Recycling ist eine Abwärtsspirale, kein Kreislauf. Jeans werden bestenfalls zu Viskosegarnen, die meisten Textilien jedoch zu Putzlappen für die Industrie, Vlies- und Isolierstoffen oder Pappe. Immerhin ein Fortschritt zum linearen Modell, bei dem die Alttextilien direkt in der Verbrennung oder auf einer Deponie landeten.
Viele andere Projekte sind Scheinlösungen. So stammt recyceltes Polyester in Kleidung von PET-Flaschen und nicht aus Polyesterkleidung aus dem Altkleider-Container. Daher muss für die Flaschenproduktion auch neues Polyester verwendet werden. Die EU-Kommission sieht dies als Irreführung der Verbraucher und als Verstoß gegen den geschlossenen Kreislauf für PET- Lebensmittelflaschen.
Und so sinnvoll ein Upcycling, also aus älteren Teilen neue Kleidung zu nähen, im privaten Bereich, für Kleinserien und vor allem für einen Bewusstseinswandel ist, bietet es keine industrielle Perspektive.
Biobasierte Garne aus Algen, Ananas- oder Bananenschalen, Blüten, CO2 oder Milch, Lebensmittelreste zum Färben von Textilien oder das biologisch abbaubare Stretchgarn Coreva stecken noch in den Kinderschuhen.
Die EU-Kommission ruft daher die Unternehmen auf, ihre Bemühungen auf das Faser-zu-Faser-Recycling zu konzentrieren. Derzeit liegt der Anteil unter einem Prozent, so die Ellen-MacArthur-Stiftung. Es gilt also eine „Lücke“ von 99 Prozent in nur acht Jahren zu schließen. Bislang gibt es nur wenige Forschungs- und Pilotprojekte. Und diese sind noch ganz am Anfang mit minimalen Produktionsmengen, die angekündigt wurden. Zu den wichtigsten Projekten zählen:
– Prozesssichere Materialerkennung (verschiedene Ansätze wie Chips circularity.ID)
– Optimiertes mechanisches Recycling mit längeren Fasern
– Chemisches Trennen von Polyester/Baumwolle (Re:wind, Resyntex mit I Collect und Soex, Uni Wien, Worn Again Technologies)
– Chemische Umwandlung von Baumwolle zu Viskose (Evrnu, re:newcell, Saxion, SaXcell, Södra, Lenzing)
– Trennung von Baumwoll/Elasthan (Re:Mix)
Keine Frage: Dies sind wichtige Fortschritte, und es gibt große Hoffnungen, dass aus dem Faser-zu-Faser-Recycling ein gigantisches Geschäft wird. Doch die Herausforderungen sind noch enorm: Der Energieaufwand z.B. für das Säubern und Entfärben ist sehr hoch. Der Mix verschiedener Polyesterarten ist problematisch. Elasthan oder Chemikalien in den Alttextilien beeinträchtigen den Prozess. Beispielsweise verstopfen sie die Düsen der Spinnmaschinen. Recyclingfasern sind zudem teurer als Primärrohstoffe.
Wo liegt das Problem?
Auf absehbare Zeit findet daher ein Recycling von Fasern zu neuen Kleidern, aufgrund technologischer Grenzen wie der Faserlänge, im großindustriellen Maßstab praktisch nicht statt. Eine Übersicht von 2021 zum Stand der Recycling-Technik der RWTH Aachen kommt sogar zu dem ernüchternden Fazit: „Recycling wird die Nachhaltigkeitsprobleme in der Textil-Industrie nicht lösen.“
Das Versprechen der Bioökonomie bzw. des Green Deal, wir könnten dank des technologischen Fortschritts mit reinem Gewissen so weiterleben wie bisher, erscheint also als Illusion.
Dabei geht es um unfassbare Mengen. Seit dem Jahr 2000 hat sich laut der Ellen-MacArthur-Stiftung der Konsum von Kleidung verdoppelt und die Tragezeit zudem halbiert. Da die Preise für Mode in der EU zwischen 1996 und 2018 inflationsbereinigt laut der EU-Textilstrategie um über 30 Prozent gesunken sind, sind Mengen aussagekräftiger als Umsätze, um sich die Dimensionen vor Augen zu führen.
Pro Jahr werden schätzungsweise statt einst 50 jetzt etwa 120 Milliarden Kleidungsstücke weltweit hergestellt. Greenpeace spricht sogar von rund 200 Milliarden. Davon sollen laut der Ellen MacArthur Stiftung 40 Prozent nicht verkauft worden sein.
Vom Gebrauch zum Verbrauch
In Deutschland wurden davon 2018 laut Statista ca. 4,7 Milliarden Kleidungsstücke verkauft, das sind im Durchschnitt 56 Teile für jeden – vom Baby bis zum Greis. Und das Produktionsvolumen von Kleidungsstücken steigt weiter jährlich um 2,7 Prozent an.
Frauen kaufen deutlich mehr Mode wie Männer: Laut einer Studie der Hochschule Macromedia von 2021 besitzen Frauen im Schnitt 175 und Männer 105,4 Kleidungstücke. Etwa ein Drittel davon wurde in den letzten 12 Monaten gekauft.
Kleidung wird laut der Initiative der Bundesregierung „Grüner Knopf“ im Schnitt viermal getragen, vieles gar nicht. So stehen drei Lieblingsteilen drei sogenannte Schrankleichen gegenüber.
Der Gebrauch wurde zu einem rapiden Verbrauch von Kleidung. Und das nicht nur in Deutschland, Europa oder den USA. Mit dem Anwachsen der Weltbevölkerung bis 2030 auf mehr als 8,5 Milliarden Menschen und steigendem Haushaltseinkommen auch in China, Indien oder Brasilien.
Überfluss bis zum Überdruß
Fast Fashion, also preisgünstige Kleidung oft minderer Qualität, gilt als Hauptverursacher des Überangebots an Mode. Zara brachte als eines der ersten Unternehmen alle zwei Wochen neue Modelle auf den Markt, statt ein- oder zweimal pro Saison. Wer keine Marktanteile verlieren wollte, musste mitziehen. Die Fast Fashion war geboren und wurde als „Demokratisierung der Mode“ gefeiert. Signalwirkung hatte 2004 die Kollektion „Karl Lagerfeld by H&M“. Einige Unternehmen produzieren gar bis zu 52 Kollektionen im Jahr. Oft in Qualitäten, die selbst für eine Weiterverwendung als Putzlappen zu schlecht sind. Anbieter wie Shein aus China bieten täglich Neuheiten; diese werden überwiegend von Teenies in aller Welt gekauft, also der Generation „Fridays for Future“. Mit wechselnden Moden hat die Fast Fashion nur sehr bedingt zu tun. Es geht vor allem um Konsumanreize. Stores und Medien brauchen schließlich immer neue Impulse.
Berauschung durch Betäubung
Keine Frage, es ist ein großer Gewinn, dass Dank des industriellen Fortschritts „Mode für Millionen“ möglich geworden ist. So entwarf Karl Lagerfeld von 1987 bis 1995 auch Mode für Klaus Steilmann, dem Gründer der Stiftung, die den European Fashion Award FASH auslobt.
Doch die Demokratisierung der Mode hat sich als ein Überkonsum für alle herausgestellt. Der Journalist Gert Scobel analysiert: „In Wirklichkeit handelt es sich nicht um echten Luxus, sondern um seine Simulierung [… die] leer läuft und immer schneller durch neuen Konsum angeregt werden muss.“
Letzlich wirkt der Überkonsum von Mode und Instagram wie eine Narkose. Sie betäubt Langeweile, mangelndes Selbstbewusstsein und oft wohl auch eine unbewusste religiöse Sehnsucht und Orientierungssuche.
Mit etwas Abstand erkennt man schnell, dass der heutige westliche Konsumlevel, den viele für normal halten, ein Ausnahmezustand in der Geschichte ist. Es gibt kein Menschenrecht auf grenzenlosen Konsum. Zumal dies auf Kosten der Umwelt, der Arbeiterinnen und der kommenden Generationen geschieht.
Wie konnte es soweit kommen?
Ein wesentlicher Auslöser des ungeheuren Aufstiegs der Fast Fashion ist das Auslaufen jedweder Handelsbeschränkungen mit dem Fall des Welttextilabkommens (WTO) zum Ende 2004. 1974 waren die Importquoten zum Schutz von Arbeitsplätzen im Westen vor Billigimporten eingeführt worden. Die Abschaffung und Öffnung der Märkte war in Zeiten des Neoliberalismus von der Politik gewollt. Die globale Beschaffung wurde in der Folge neu kalibriert. Die Preise sanken stark. Allein 5 bis 10 Prozent entfielen durch den Wegfall der Kosten für die Quoten. Ganze Länder, wie in Afrika, verloren ihre Textilindustrie. Die Exporte stiegen schon 2005 so stark, dass China auf Druck der EU die Exporte freiwillig begrenzte. Seit der Handel nicht mehr durch Quoten begrenzt wurde, legten die Fast Fashion Anbieter und Textil-Discounter ein ungeheures Wachstum an den Tag.
Brandbeschleuniger
Das Aufkommen des Onlinehandels von Amazon bis Zalando und vor allem der inzwischen fast zum Standard gewordenen kostenlosen Retouren führte zu Rücksendequoten für Mode von bis zu 60 Prozent. „Schrei vor Glück – oder schick‘s zurück“ – auch dies verstärkte den Modekonsum maßgeblich.
Zeitgleich stieg Instagram in kürzester Zeit zum heute dominanten Mode-Medium auf und wirkt wie ein zusätzlicher Brandbeschleuniger. Laut einer Studie des Netzwerks LTK tätigen 42 Prozent der „Gen Z“ den Großteil ihrer Einkäufe über Soziale Medien wie Instagram oder TikTok. Die Folge der billigen Preise und ständig neuen Konsumanreize: Millionen kaufen zu viel Kleidung, zu oft und meist viel zu unüberlegt.
Die Kraft des Irrationalen
Warum kaufen wir soviel? Wir wissen es wohl selber nicht. Und wollen nicht darüber nachdenken. Marktforscher Ralph Ohnemus erklärt die mangelnde Konsequenz mit Hinweis auf den Nobelpreisträger Daniel Kahnemann so: „Wir sind faul und wollen nicht zu viel denken.“ Statt bewusst zu konsumieren, folgen wir einfach unseren Emotionen. Denn beim logischen Denken braucht unser Gehirn viel Energie.
Schon das Luxurieren der Natur – etwa beim Pfau – legt nahe, dass das Streben nach Differenz zur Evolution gehört und dass die Lust an der Verschwendung in der Triebstruktur wurzelt. Und so war ein zur Schau gestellter Konsum schon immer eine Demonstration von Macht. Gerade auf Instagram erhalten laute Inszenierungen Aufmerksamkeit und erhöhen so das „symbolische Kapital“.
Gegen diese Kraft des Irrationalen kommen die Argumente der Vernunft kaum an. Seit der Antike blieben alle Aufrufe zur Askese weitgehend erfolglos.
Statt einen tatsächlichen Bedarf zu stillen, ermöglicht es unser Wohlstand in Verbindung mit billiger Fast Fashion, dass wir heute vielfach nur noch kaufen „um unsere Stimmung zu modulieren“, wie Carl Tillessen in seinem Bestseller „Konsum“ schreibt. Ob aus Langeweile, als Belohnung oder zum Trost.
Der wirksame Weg
Der wirksamste Weg ist denkbar einfach: Kleidungsstücke deutlich länger zu tragen. Auch Secondhand-Kleidung ist eine Möglichkeit, sich ressourcenschonend einzukleiden und weiterhin Spaß an Mode zu haben. Das Geschäft mit Secondhand-Mode boomt. Doch die Gleichung von Secondhand und Nachhaltigkeit geht nur auf, wenn insgesamt nicht mehr Kleidung konsumiert wird. Denn die niedrigen Preise und das gute Gewissen verleiten schnell zu noch mehr Konsum, , dem sogenannten Rebound oder Bumerang-Effekt.
Europa Rekord
Wieviele Altkleider es in Deutschland gibt, ist unklar, da keine genauen Daten erfasst werden. Nach Berechnungen des Bundesverband Sekundärrohstoffe und Entsorgung (BVSE) bringen rund 85 Prozent der Deutschen ihre Altkleider zum Sammelcontainer: ein Rekord in Europa. So werden hierzulande pro Jahr knapp 1,3 Million Tonnen Altkleider in etwa 120.000 Containern gesammelt. Somit landen fast drei Viertel aller ungewollten Kleider bei Textilverwertern.
ZDF Dokumentation von 2018 über das Werk Bitterfeld-Wolfen des Textilrecyclers „Soex“ © Soex
Allein beim Marktführer Soex in Bitterfeld-Wolfen können jedes Jahr bis zu 100.000 Tonnen sortiert werden. Davon sind 10 Prozent neuwertig und werden in deutschen Secondhand Läden verkauft. Weitere 45 Prozent werden als Secondhand-Kleidung in mehr als 45 Ländern exportiert. 15 Prozent werden zu Putzlappen für die Industrie, 20 Prozent werden in der Reisserei in genau definierten Qualitäten zu Rohstoffen für Autohimmel, Isolier- und Füllstoffen, Malervlies oder für Kleiderbügel verarbeitet. Und die letzten 10 Prozent gelten als Abfall, von dem noch 3 Prozent an die Pappenindustrie verkauft werden. Die restlichen 7 Prozent müssen gegen Gebühr fachgerecht verbrannt werden. Allerdings verschieben sich die Anteile. Jedes Jahr landen mehr Textilien im Reisswolf oder der Verbrennungsanlage.
Wir haben keine Lösungen
Jahrzehntelang war das Geschäft mit Altkleidern so einträglich wie einfach gewesen. Die Verwerter wie Soex kauften Kommunen und karitativen Organisationen die gesammelten Altkleider ab, sortierten sie und exportierten das Gros als Secondhandware nach Osteuropa, in den Nahen Osten sowie Afrika. Die Nachfrage war viel höher als das Angebot.
Doch seit 2015 ist dieser Markt im Umbruch. Mehr Fast Fashion in den Sammlungen bedeutet eine deutlich schlechtere Qualität, so die BVSE-Studie von 2015. Da die Sortierer das Recycling der untragbaren Kleidung mit den Erlösen der hochwertigen Secondhandkleidung finanzieren, entstand eine prekäre Situation. Was gut ist für die Umwelt, verschärft die Krise der Textilsortierer.
Die einstige Spitzenware in den Sammlungen wird heute meist direkt von Privat an Privat über Internetplattformen oder über Online-Shops für Vintage-Mode verkauft. Dieses Geschäft wächst laut Global Data 21-mal so schnell wie die gesamte Modeindustrie auf prognostizierte 54 Milliarden Euro im Jahr 2024. Die Verbraucherpreise steigen stark, so dass schon von einer „Gentrifizierung von Secondhandmode“ gesprochen wird. Zugleich wehren sich viele afrikanische Länder zunehmend gegen den Import von Secondhandware. Zudem wird dort Kleidung aus China oft billiger verkauft als europäische Secondhand-Ware, auch wegen stark unterschiedlicher Zollgebühren.
Es quellen nicht nur die Kleiderschränke der Konsumenten über. Auch die Lagerhallen von Industrie und Handel sind mit überschüssiger Neuware und Retouren voll. Die Absatzmärkte sind hingegen übersättigt. Laut dem Spitzenverband Euratex gibt es keinen Plan, wohin wir in Europa mit künftig mehr als 5 Millionen Tonnen Altkleidern sollen. Diese Menge dürfte nochmals um geschätzte zwei Millionen Tonnen pro Jahr steigen, wenn ab dem 1. Januar 2025 das EU-Abfallrecht die getrennte Sammlung von Textilien vorschreibt. Dafür gibt es aktuell in Europa keine ausreichenden Sortier- und Verwertungskapazitäten. Zumal die EU ab 2023 den Export von Textilabfällen in Nicht-OECD-Länder verbieten will.
Es sind mehrere sich verstärkende Teufelskreise entstanden, aus denen es keinen Ausweg zu geben scheint. Sie sind für die Mode in ökologischer und sozialer Hinsicht so verheerend, dass die ersten Experten schon Bekleidungskontingente für jeden Bürger ins Gespräch bringen. Es ist wie in Goethes Zauberlehrling: Was als Segen anfing, wurde zur Ausgeburt der Hölle: „Die ich rief, die Geister, werd ich nun nicht los.“
Durch die Pandemie, Social Media und Games, Diskussionen über Diversität und Gender sowie neue Kunstformen und die US-Popkultur aber auch durch die Digitalisierung und Nachhaltigkeit befinden sich Werte und damit die Ästhetik in einem so starken Wandel, wie wohl seit den 1960er Jahren nicht mehr. Das gibt die Chance für eine ganz neue Mode. Und damit für neue Wertstoffketten.
Zum Teil II Optionen: Besser als das Gleiche in Grün
Joachim Schirrmacher
Nach seiner Lehre zum Einzelhandelskaufmann studierte er Designmanagement mit Schwerpunkten wie Ökologie oder Gender. Seit 1994 beschäftigt er sich in seiner Arbeit mit Nachhaltiger Mode. Er arbeitet seit über 20 Jahren als Autor (Chefredakteur Style in Progress, Tagesspiegel, NZZ), Sprecher (Copenhagen Business School, Goethe-Institut, HDS/L) und Kommunikationsexperte für Unternehmen wie Carroux Caffee, Freitag Lab AG, Messe München oder Retail Brand Services sowie Institutionen wie dem Auswärtigen Amt. Seit 2004 verantwortet er pro bono den European Fashion Award FASH der SDBI.DE www.schirrmacher.org
Über nachhaltige und faire Mode wird seit Jahrzehnten intensiv diskutiert. Alle reden von Kreislaufwirtschaft, und viele Modeunternehmen haben Sustainability-Projekte angekündigt. Doch die Realität ist mehr als ernüchternd. Nun will die Europäische Kommission mit einer umfangreichen Textilstrategie die Mode zur Nachhaltigkeit verpflichten.
Eine Analyse von Joachim Schirrmacher
Zum Teil II Optionen: Besser als das Gleiche in Grün
85 Prozent aller Unternehmen sehen Nachhaltigkeit als Unternehmensstrategie. Das liegt neben allem persönlichen Engagement von Frauen wie Antje von Dewitz und Männern wie Michael Otto auch daran, dass inzwischen fast alle größeren Modeunternehmen im Besitz von Investoren oder Aktiengesellschaften sind. Vieles ist daher ein Ankündigungsmarketing, das sich an die Öffentlichkeit richtet und die Shareholder abholen soll. Zumeist werden Vorzeigeprojekte in kleinen Stückzahlen aufgelegt. Das Kerngeschäft ändert sich hingegen kaum.
Circular Economy statt Recycling?
Besonders beliebt ist das Werben für eine Kreislaufwirtschaft mit Slogans wie „Recyceln Sie Mode“. Aus alt wird neu, ein perfektes Perpetuum Mobile: Regen fällt, fließt durch die Obstwiese und in einen Fluss, weiter ins Meer, verdunstet in den Himmel und fällt wieder. Nur zu gerne wollen wir es glauben.
Damit die Modeindustrie nicht nur redet will die Europäische Kommission sie jetzt zur Nachhaltigkeit verpflichten. Sie sagt damit der Fast Fashion und Überproduktion sowie dem Greenwashing den Kampf an. Ende März hat sie dazu eine umfangreiche und ehrgeizige „EU-Strategie für nachhaltige und kreislauffähige Textilien“ (EU-Textilstrategie) vorgestellt.
Bis 2030 sollen in der EU auf den Markt gebrachte Textilien langlebig und kreislauffähig gestaltet und unter Wahrung der sozialen Rechte und des Umweltschutzes hergestellt sein. Sie sollen dabei größtenteils aus Recyclingfasern bestehen und frei von umweltschädlichen Schadstoffen und Mikroplastik sein. Zudem soll die Kreislaufwirtschaft in der Mode florieren und über ausreichende Kapazitäten für ein Faser-zu-Faser-Recycling verfügen. Hersteller müssen künftig die Verantwortung für ihre Produkte vom Design bis zur Entsorgung übernehmen.
Von Null auf Hundert
Die Ziele sind extrem ehrgeizig, denn bislang ist die „Circular Economy“ in der Mode nur Vision. Einen echten Kreislauf, in dem Altkleider zu neuen Textilien werden, gibt es bisher nicht. Neben Secondhandkleidung ist das Recycling von Altkleidern, die nicht mehr getragen werden können, derzeit die einzige Lösung. Doch dieses Recycling ist eine Abwärtsspirale, kein Kreislauf. Jeans werden bestenfalls zu Viskosegarnen, die meisten Textilien jedoch zu Putzlappen für die Industrie, Vlies- und Isolierstoffen oder Pappe. Immerhin ein Fortschritt zum linearen Modell, bei dem die Alttextilien direkt in der Verbrennung oder auf einer Deponie landeten.
Viele andere Projekte sind Scheinlösungen. So stammt recyceltes Polyester in Kleidung von PET-Flaschen und nicht aus Polyesterkleidung aus dem Altkleider-Container. Daher muss für die Flaschenproduktion auch neues Polyester verwendet werden. Die EU-Kommission sieht dies als Irreführung der Verbraucher und als Verstoß gegen den geschlossenen Kreislauf für PET- Lebensmittelflaschen.
Und so sinnvoll ein Upcycling, also aus älteren Teilen neue Kleidung zu nähen, im privaten Bereich, für Kleinserien und vor allem für einen Bewusstseinswandel ist, bietet es keine industrielle Perspektive.
Biobasierte Garne aus Algen, Ananas- oder Bananenschalen, Blüten, CO2 oder Milch, Lebensmittelreste zum Färben von Textilien oder das biologisch abbaubare Stretchgarn Coreva stecken noch in den Kinderschuhen.
Die EU-Kommission ruft daher die Unternehmen auf, ihre Bemühungen auf das Faser-zu-Faser-Recycling zu konzentrieren. Derzeit liegt der Anteil unter einem Prozent, so die Ellen-MacArthur-Stiftung. Es gilt also eine „Lücke“ von 99 Prozent in nur acht Jahren zu schließen. Bislang gibt es nur wenige Forschungs- und Pilotprojekte. Und diese sind noch ganz am Anfang mit minimalen Produktionsmengen, die angekündigt wurden. Zu den wichtigsten Projekten zählen:
– Prozesssichere Materialerkennung (verschiedene Ansätze wie Chips circularity.ID)
– Optimiertes mechanisches Recycling mit längeren Fasern
– Chemisches Trennen von Polyester/Baumwolle (Re:wind, Resyntex mit I Collect und Soex, Uni Wien, Worn Again Technologies)
– Chemische Umwandlung von Baumwolle zu Viskose (Evrnu, re:newcell, Saxion, SaXcell, Södra, Lenzing)
– Trennung von Baumwoll/Elasthan (Re:Mix)
Keine Frage: Dies sind wichtige Fortschritte, und es gibt große Hoffnungen, dass aus dem Faser-zu-Faser-Recycling ein gigantisches Geschäft wird. Doch die Herausforderungen sind noch enorm: Der Energieaufwand z.B. für das Säubern und Entfärben ist sehr hoch. Der Mix verschiedener Polyesterarten ist problematisch. Elasthan oder Chemikalien in den Alttextilien beeinträchtigen den Prozess. Beispielsweise verstopfen sie die Düsen der Spinnmaschinen. Recyclingfasern sind zudem teurer als Primärrohstoffe.
Wo liegt das Problem?
Auf absehbare Zeit findet daher ein Recycling von Fasern zu neuen Kleidern, aufgrund technologischer Grenzen wie der Faserlänge, im großindustriellen Maßstab praktisch nicht statt. Eine Übersicht von 2021 zum Stand der Recycling-Technik der RWTH Aachen kommt sogar zu dem ernüchternden Fazit: „Recycling wird die Nachhaltigkeitsprobleme in der Textil-Industrie nicht lösen.“
Das Versprechen der Bioökonomie bzw. des Green Deal, wir könnten dank des technologischen Fortschritts mit reinem Gewissen so weiterleben wie bisher, erscheint also als Illusion.
Dabei geht es um unfassbare Mengen. Seit dem Jahr 2000 hat sich laut der Ellen-MacArthur-Stiftung der Konsum von Kleidung verdoppelt und die Tragezeit zudem halbiert. Da die Preise für Mode in der EU zwischen 1996 und 2018 inflationsbereinigt laut der EU-Textilstrategie um über 30 Prozent gesunken sind, sind Mengen aussagekräftiger als Umsätze, um sich die Dimensionen vor Augen zu führen.
Pro Jahr werden schätzungsweise statt einst 50 jetzt etwa 120 Milliarden Kleidungsstücke weltweit hergestellt. Greenpeace spricht sogar von rund 200 Milliarden. Davon sollen laut der Ellen MacArthur Stiftung 40 Prozent nicht verkauft worden sein.
Vom Gebrauch zum Verbrauch
In Deutschland wurden davon 2018 laut Statista ca. 4,7 Milliarden Kleidungsstücke verkauft, das sind im Durchschnitt 56 Teile für jeden – vom Baby bis zum Greis. Und das Produktionsvolumen von Kleidungsstücken steigt weiter jährlich um 2,7 Prozent an.
Frauen kaufen deutlich mehr Mode wie Männer: Laut einer Studie der Hochschule Macromedia von 2021 besitzen Frauen im Schnitt 175 und Männer 105,4 Kleidungstücke. Etwa ein Drittel davon wurde in den letzten 12 Monaten gekauft.
Kleidung wird laut der Initiative der Bundesregierung „Grüner Knopf“ im Schnitt viermal getragen, vieles gar nicht. So stehen drei Lieblingsteilen drei sogenannte Schrankleichen gegenüber.
Der Gebrauch wurde zu einem rapiden Verbrauch von Kleidung. Und das nicht nur in Deutschland, Europa oder den USA. Mit dem Anwachsen der Weltbevölkerung bis 2030 auf mehr als 8,5 Milliarden Menschen und steigendem Haushaltseinkommen auch in China, Indien oder Brasilien.
Überfluss bis zum Überdruß
Fast Fashion, also preisgünstige Kleidung oft minderer Qualität, gilt als Hauptverursacher des Überangebots an Mode. Zara brachte als eines der ersten Unternehmen alle zwei Wochen neue Modelle auf den Markt, statt ein- oder zweimal pro Saison. Wer keine Marktanteile verlieren wollte, musste mitziehen. Die Fast Fashion war geboren und wurde als „Demokratisierung der Mode“ gefeiert. Signalwirkung hatte 2004 die Kollektion „Karl Lagerfeld by H&M“. Einige Unternehmen produzieren gar bis zu 52 Kollektionen im Jahr. Oft in Qualitäten, die selbst für eine Weiterverwendung als Putzlappen zu schlecht sind. Anbieter wie Shein aus China bieten täglich Neuheiten; diese werden überwiegend von Teenies in aller Welt gekauft, also der Generation „Fridays for Future“. Mit wechselnden Moden hat die Fast Fashion nur sehr bedingt zu tun. Es geht vor allem um Konsumanreize. Stores und Medien brauchen schließlich immer neue Impulse.
Berauschung durch Betäubung
Keine Frage, es ist ein großer Gewinn, dass Dank des industriellen Fortschritts „Mode für Millionen“ möglich geworden ist. So entwarf Karl Lagerfeld von 1987 bis 1995 auch Mode für Klaus Steilmann, dem Gründer der Stiftung, die den European Fashion Award FASH auslobt.
Doch die Demokratisierung der Mode hat sich als ein Überkonsum für alle herausgestellt. Der Journalist Gert Scobel analysiert: „In Wirklichkeit handelt es sich nicht um echten Luxus, sondern um seine Simulierung [… die] leer läuft und immer schneller durch neuen Konsum angeregt werden muss.“
Letzlich wirkt der Überkonsum von Mode und Instagram wie eine Narkose. Sie betäubt Langeweile, mangelndes Selbstbewusstsein und oft wohl auch eine unbewusste religiöse Sehnsucht und Orientierungssuche.
Mit etwas Abstand erkennt man schnell, dass der heutige westliche Konsumlevel, den viele für normal halten, ein Ausnahmezustand in der Geschichte ist. Es gibt kein Menschenrecht auf grenzenlosen Konsum. Zumal dies auf Kosten der Umwelt, der Arbeiterinnen und der kommenden Generationen geschieht.
Wie konnte es soweit kommen?
Ein wesentlicher Auslöser des ungeheuren Aufstiegs der Fast Fashion ist das Auslaufen jedweder Handelsbeschränkungen mit dem Fall des Welttextilabkommens (WTO) zum Ende 2004. 1974 waren die Importquoten zum Schutz von Arbeitsplätzen im Westen vor Billigimporten eingeführt worden. Die Abschaffung und Öffnung der Märkte war in Zeiten des Neoliberalismus von der Politik gewollt. Die globale Beschaffung wurde in der Folge neu kalibriert. Die Preise sanken stark. Allein 5 bis 10 Prozent entfielen durch den Wegfall der Kosten für die Quoten. Ganze Länder, wie in Afrika, verloren ihre Textilindustrie. Die Exporte stiegen schon 2005 so stark, dass China auf Druck der EU die Exporte freiwillig begrenzte. Seit der Handel nicht mehr durch Quoten begrenzt wurde, legten die Fast Fashion Anbieter und Textil-Discounter ein ungeheures Wachstum an den Tag.
Brandbeschleuniger
Das Aufkommen des Onlinehandels von Amazon bis Zalando und vor allem der inzwischen fast zum Standard gewordenen kostenlosen Retouren führte zu Rücksendequoten für Mode von bis zu 60 Prozent. „Schrei vor Glück – oder schick‘s zurück“ – auch dies verstärkte den Modekonsum maßgeblich.
Zeitgleich stieg Instagram in kürzester Zeit zum heute dominanten Mode-Medium auf und wirkt wie ein zusätzlicher Brandbeschleuniger. Laut einer Studie des Netzwerks LTK tätigen 42 Prozent der „Gen Z“ den Großteil ihrer Einkäufe über Soziale Medien wie Instagram oder TikTok. Die Folge der billigen Preise und ständig neuen Konsumanreize: Millionen kaufen zu viel Kleidung, zu oft und meist viel zu unüberlegt.
Die Kraft des Irrationalen
Warum kaufen wir soviel? Wir wissen es wohl selber nicht. Und wollen nicht darüber nachdenken. Marktforscher Ralph Ohnemus erklärt die mangelnde Konsequenz mit Hinweis auf den Nobelpreisträger Daniel Kahnemann so: „Wir sind faul und wollen nicht zu viel denken.“ Statt bewusst zu konsumieren, folgen wir einfach unseren Emotionen. Denn beim logischen Denken braucht unser Gehirn viel Energie.
Schon das Luxurieren der Natur – etwa beim Pfau – legt nahe, dass das Streben nach Differenz zur Evolution gehört und dass die Lust an der Verschwendung in der Triebstruktur wurzelt. Und so war ein zur Schau gestellter Konsum schon immer eine Demonstration von Macht. Gerade auf Instagram erhalten laute Inszenierungen Aufmerksamkeit und erhöhen so das „symbolische Kapital“.
Gegen diese Kraft des Irrationalen kommen die Argumente der Vernunft kaum an. Seit der Antike blieben alle Aufrufe zur Askese weitgehend erfolglos.
Statt einen tatsächlichen Bedarf zu stillen, ermöglicht es unser Wohlstand in Verbindung mit billiger Fast Fashion, dass wir heute vielfach nur noch kaufen „um unsere Stimmung zu modulieren“, wie Carl Tillessen in seinem Bestseller „Konsum“ schreibt. Ob aus Langeweile, als Belohnung oder zum Trost.
Der wirksame Weg
Der wirksamste Weg ist denkbar einfach: Kleidungsstücke deutlich länger zu tragen. Auch Secondhand-Kleidung ist eine Möglichkeit, sich ressourcenschonend einzukleiden und weiterhin Spaß an Mode zu haben. Das Geschäft mit Secondhand-Mode boomt. Doch die Gleichung von Secondhand und Nachhaltigkeit geht nur auf, wenn insgesamt nicht mehr Kleidung konsumiert wird. Denn die niedrigen Preise und das gute Gewissen verleiten schnell zu noch mehr Konsum, , dem sogenannten Rebound oder Bumerang-Effekt.
Europa Rekord
Wieviele Altkleider es in Deutschland gibt, ist unklar, da keine genauen Daten erfasst werden. Nach Berechnungen des Bundesverband Sekundärrohstoffe und Entsorgung (BVSE) bringen rund 85 Prozent der Deutschen ihre Altkleider zum Sammelcontainer: ein Rekord in Europa. So werden hierzulande pro Jahr knapp 1,3 Million Tonnen Altkleider in etwa 120.000 Containern gesammelt. Somit landen fast drei Viertel aller ungewollten Kleider bei Textilverwertern.
ZDF Dokumentation von 2018 über das Werk Bitterfeld-Wolfen des Textilrecyclers „Soex“ © Soex
Allein beim Marktführer Soex in Bitterfeld-Wolfen können jedes Jahr bis zu 100.000 Tonnen sortiert werden. Davon sind 10 Prozent neuwertig und werden in deutschen Secondhand Läden verkauft. Weitere 45 Prozent werden als Secondhand-Kleidung in mehr als 45 Ländern exportiert. 15 Prozent werden zu Putzlappen für die Industrie, 20 Prozent werden in der Reisserei in genau definierten Qualitäten zu Rohstoffen für Autohimmel, Isolier- und Füllstoffen, Malervlies oder für Kleiderbügel verarbeitet. Und die letzten 10 Prozent gelten als Abfall, von dem noch 3 Prozent an die Pappenindustrie verkauft werden. Die restlichen 7 Prozent müssen gegen Gebühr fachgerecht verbrannt werden. Allerdings verschieben sich die Anteile. Jedes Jahr landen mehr Textilien im Reisswolf oder der Verbrennungsanlage.
Wir haben keine Lösungen
Jahrzehntelang war das Geschäft mit Altkleidern so einträglich wie einfach gewesen. Die Verwerter wie Soex kauften Kommunen und karitativen Organisationen die gesammelten Altkleider ab, sortierten sie und exportierten das Gros als Secondhandware nach Osteuropa, in den Nahen Osten sowie Afrika. Die Nachfrage war viel höher als das Angebot.
Doch seit 2015 ist dieser Markt im Umbruch. Mehr Fast Fashion in den Sammlungen bedeutet eine deutlich schlechtere Qualität, so die BVSE-Studie von 2015. Da die Sortierer das Recycling der untragbaren Kleidung mit den Erlösen der hochwertigen Secondhandkleidung finanzieren, entstand eine prekäre Situation. Was gut ist für die Umwelt, verschärft die Krise der Textilsortierer.
Die einstige Spitzenware in den Sammlungen wird heute meist direkt von Privat an Privat über Internetplattformen oder über Online-Shops für Vintage-Mode verkauft. Dieses Geschäft wächst laut Global Data 21-mal so schnell wie die gesamte Modeindustrie auf prognostizierte 54 Milliarden Euro im Jahr 2024. Die Verbraucherpreise steigen stark, so dass schon von einer „Gentrifizierung von Secondhandmode“ gesprochen wird. Zugleich wehren sich viele afrikanische Länder zunehmend gegen den Import von Secondhandware. Zudem wird dort Kleidung aus China oft billiger verkauft als europäische Secondhand-Ware, auch wegen stark unterschiedlicher Zollgebühren.
Es quellen nicht nur die Kleiderschränke der Konsumenten über. Auch die Lagerhallen von Industrie und Handel sind mit überschüssiger Neuware und Retouren voll. Die Absatzmärkte sind hingegen übersättigt. Laut dem Spitzenverband Euratex gibt es keinen Plan, wohin wir in Europa mit künftig mehr als 5 Millionen Tonnen Altkleidern sollen. Diese Menge dürfte nochmals um geschätzte zwei Millionen Tonnen pro Jahr steigen, wenn ab dem 1. Januar 2025 das EU-Abfallrecht die getrennte Sammlung von Textilien vorschreibt. Dafür gibt es aktuell in Europa keine ausreichenden Sortier- und Verwertungskapazitäten. Zumal die EU ab 2023 den Export von Textilabfällen in Nicht-OECD-Länder verbieten will.
Es sind mehrere sich verstärkende Teufelskreise entstanden, aus denen es keinen Ausweg zu geben scheint. Sie sind für die Mode in ökologischer und sozialer Hinsicht so verheerend, dass die ersten Experten schon Bekleidungskontingente für jeden Bürger ins Gespräch bringen. Es ist wie in Goethes Zauberlehrling: Was als Segen anfing, wurde zur Ausgeburt der Hölle: „Die ich rief, die Geister, werd ich nun nicht los.“
Durch die Pandemie, Social Media und Games, Diskussionen über Diversität und Gender sowie neue Kunstformen und die US-Popkultur aber auch durch die Digitalisierung und Nachhaltigkeit befinden sich Werte und damit die Ästhetik in einem so starken Wandel, wie wohl seit den 1960er Jahren nicht mehr. Das gibt die Chance für eine ganz neue Mode. Und damit für neue Wertstoffketten.
Zum Teil II Optionen: Besser als das Gleiche in Grün
Joachim Schirrmacher
Nach seiner Lehre zum Einzelhandelskaufmann studierte er Designmanagement mit Schwerpunkten wie Ökologie oder Gender. Seit 1994 beschäftigt er sich in seiner Arbeit mit Nachhaltiger Mode. Er arbeitet seit über 20 Jahren als Autor (Chefredakteur Style in Progress, Tagesspiegel, NZZ), Sprecher (Copenhagen Business School, Goethe-Institut, HDS/L) und Kommunikationsexperte für Unternehmen wie Carroux Caffee, Freitag Lab AG, Messe München oder Retail Brand Services sowie Institutionen wie dem Auswärtigen Amt. Seit 2004 verantwortet er pro bono den European Fashion Award FASH der SDBI.DE www.schirrmacher.org
Über nachhaltige und faire Mode wird seit Jahrzehnten intensiv diskutiert. Alle reden von Kreislaufwirtschaft, und viele Modeunternehmen haben Sustainability-Projekte angekündigt. Doch die Realität ist mehr als ernüchternd. Nun will die Europäische Kommission mit einer umfangreichen Textilstrategie die Mode zur Nachhaltigkeit verpflichten.
Eine Analyse von Joachim Schirrmacher
Zum Teil II Optionen: Besser als das Gleiche in Grün
85 Prozent aller Unternehmen sehen Nachhaltigkeit als Unternehmensstrategie. Das liegt neben allem persönlichen Engagement von Frauen wie Antje von Dewitz und Männern wie Michael Otto auch daran, dass inzwischen fast alle größeren Modeunternehmen im Besitz von Investoren oder Aktiengesellschaften sind. Vieles ist daher ein Ankündigungsmarketing, das sich an die Öffentlichkeit richtet und die Shareholder abholen soll. Zumeist werden Vorzeigeprojekte in kleinen Stückzahlen aufgelegt. Das Kerngeschäft ändert sich hingegen kaum.
Circular Economy statt Recycling?
Besonders beliebt ist das Werben für eine Kreislaufwirtschaft mit Slogans wie „Recyceln Sie Mode“. Aus alt wird neu, ein perfektes Perpetuum Mobile: Regen fällt, fließt durch die Obstwiese und in einen Fluss, weiter ins Meer, verdunstet in den Himmel und fällt wieder. Nur zu gerne wollen wir es glauben.
Damit die Modeindustrie nicht nur redet will die Europäische Kommission sie jetzt zur Nachhaltigkeit verpflichten. Sie sagt damit der Fast Fashion und Überproduktion sowie dem Greenwashing den Kampf an. Ende März hat sie dazu eine umfangreiche und ehrgeizige „EU-Strategie für nachhaltige und kreislauffähige Textilien“ (EU-Textilstrategie) vorgestellt.
Bis 2030 sollen in der EU auf den Markt gebrachte Textilien langlebig und kreislauffähig gestaltet und unter Wahrung der sozialen Rechte und des Umweltschutzes hergestellt sein. Sie sollen dabei größtenteils aus Recyclingfasern bestehen und frei von umweltschädlichen Schadstoffen und Mikroplastik sein. Zudem soll die Kreislaufwirtschaft in der Mode florieren und über ausreichende Kapazitäten für ein Faser-zu-Faser-Recycling verfügen. Hersteller müssen künftig die Verantwortung für ihre Produkte vom Design bis zur Entsorgung übernehmen.
Von Null auf Hundert
Die Ziele sind extrem ehrgeizig, denn bislang ist die „Circular Economy“ in der Mode nur Vision. Einen echten Kreislauf, in dem Altkleider zu neuen Textilien werden, gibt es bisher nicht. Neben Secondhandkleidung ist das Recycling von Altkleidern, die nicht mehr getragen werden können, derzeit die einzige Lösung. Doch dieses Recycling ist eine Abwärtsspirale, kein Kreislauf. Jeans werden bestenfalls zu Viskosegarnen, die meisten Textilien jedoch zu Putzlappen für die Industrie, Vlies- und Isolierstoffen oder Pappe. Immerhin ein Fortschritt zum linearen Modell, bei dem die Alttextilien direkt in der Verbrennung oder auf einer Deponie landeten.
Viele andere Projekte sind Scheinlösungen. So stammt recyceltes Polyester in Kleidung von PET-Flaschen und nicht aus Polyesterkleidung aus dem Altkleider-Container. Daher muss für die Flaschenproduktion auch neues Polyester verwendet werden. Die EU-Kommission sieht dies als Irreführung der Verbraucher und als Verstoß gegen den geschlossenen Kreislauf für PET- Lebensmittelflaschen.
Und so sinnvoll ein Upcycling, also aus älteren Teilen neue Kleidung zu nähen, im privaten Bereich, für Kleinserien und vor allem für einen Bewusstseinswandel ist, bietet es keine industrielle Perspektive.
Biobasierte Garne aus Algen, Ananas- oder Bananenschalen, Blüten, CO2 oder Milch, Lebensmittelreste zum Färben von Textilien oder das biologisch abbaubare Stretchgarn Coreva stecken noch in den Kinderschuhen.
Die EU-Kommission ruft daher die Unternehmen auf, ihre Bemühungen auf das Faser-zu-Faser-Recycling zu konzentrieren. Derzeit liegt der Anteil unter einem Prozent, so die Ellen-MacArthur-Stiftung. Es gilt also eine „Lücke“ von 99 Prozent in nur acht Jahren zu schließen. Bislang gibt es nur wenige Forschungs- und Pilotprojekte. Und diese sind noch ganz am Anfang mit minimalen Produktionsmengen, die angekündigt wurden. Zu den wichtigsten Projekten zählen:
– Prozesssichere Materialerkennung (verschiedene Ansätze wie Chips circularity.ID)
– Optimiertes mechanisches Recycling mit längeren Fasern
– Chemisches Trennen von Polyester/Baumwolle (Re:wind, Resyntex mit I Collect und Soex, Uni Wien, Worn Again Technologies)
– Chemische Umwandlung von Baumwolle zu Viskose (Evrnu, re:newcell, Saxion, SaXcell, Södra, Lenzing)
– Trennung von Baumwoll/Elasthan (Re:Mix)
Keine Frage: Dies sind wichtige Fortschritte, und es gibt große Hoffnungen, dass aus dem Faser-zu-Faser-Recycling ein gigantisches Geschäft wird. Doch die Herausforderungen sind noch enorm: Der Energieaufwand z.B. für das Säubern und Entfärben ist sehr hoch. Der Mix verschiedener Polyesterarten ist problematisch. Elasthan oder Chemikalien in den Alttextilien beeinträchtigen den Prozess. Beispielsweise verstopfen sie die Düsen der Spinnmaschinen. Recyclingfasern sind zudem teurer als Primärrohstoffe.
Wo liegt das Problem?
Auf absehbare Zeit findet daher ein Recycling von Fasern zu neuen Kleidern, aufgrund technologischer Grenzen wie der Faserlänge, im großindustriellen Maßstab praktisch nicht statt. Eine Übersicht von 2021 zum Stand der Recycling-Technik der RWTH Aachen kommt sogar zu dem ernüchternden Fazit: „Recycling wird die Nachhaltigkeitsprobleme in der Textil-Industrie nicht lösen.“
Das Versprechen der Bioökonomie bzw. des Green Deal, wir könnten dank des technologischen Fortschritts mit reinem Gewissen so weiterleben wie bisher, erscheint also als Illusion.
Dabei geht es um unfassbare Mengen. Seit dem Jahr 2000 hat sich laut der Ellen-MacArthur-Stiftung der Konsum von Kleidung verdoppelt und die Tragezeit zudem halbiert. Da die Preise für Mode in der EU zwischen 1996 und 2018 inflationsbereinigt laut der EU-Textilstrategie um über 30 Prozent gesunken sind, sind Mengen aussagekräftiger als Umsätze, um sich die Dimensionen vor Augen zu führen.
Pro Jahr werden schätzungsweise statt einst 50 jetzt etwa 120 Milliarden Kleidungsstücke weltweit hergestellt. Greenpeace spricht sogar von rund 200 Milliarden. Davon sollen laut der Ellen MacArthur Stiftung 40 Prozent nicht verkauft worden sein.
Vom Gebrauch zum Verbrauch
In Deutschland wurden davon 2018 laut Statista ca. 4,7 Milliarden Kleidungsstücke verkauft, das sind im Durchschnitt 56 Teile für jeden – vom Baby bis zum Greis. Und das Produktionsvolumen von Kleidungsstücken steigt weiter jährlich um 2,7 Prozent an.
Frauen kaufen deutlich mehr Mode wie Männer: Laut einer Studie der Hochschule Macromedia von 2021 besitzen Frauen im Schnitt 175 und Männer 105,4 Kleidungstücke. Etwa ein Drittel davon wurde in den letzten 12 Monaten gekauft.
Kleidung wird laut der Initiative der Bundesregierung „Grüner Knopf“ im Schnitt viermal getragen, vieles gar nicht. So stehen drei Lieblingsteilen drei sogenannte Schrankleichen gegenüber.
Der Gebrauch wurde zu einem rapiden Verbrauch von Kleidung. Und das nicht nur in Deutschland, Europa oder den USA. Mit dem Anwachsen der Weltbevölkerung bis 2030 auf mehr als 8,5 Milliarden Menschen und steigendem Haushaltseinkommen auch in China, Indien oder Brasilien.
Überfluss bis zum Überdruß
Fast Fashion, also preisgünstige Kleidung oft minderer Qualität, gilt als Hauptverursacher des Überangebots an Mode. Zara brachte als eines der ersten Unternehmen alle zwei Wochen neue Modelle auf den Markt, statt ein- oder zweimal pro Saison. Wer keine Marktanteile verlieren wollte, musste mitziehen. Die Fast Fashion war geboren und wurde als „Demokratisierung der Mode“ gefeiert. Signalwirkung hatte 2004 die Kollektion „Karl Lagerfeld by H&M“. Einige Unternehmen produzieren gar bis zu 52 Kollektionen im Jahr. Oft in Qualitäten, die selbst für eine Weiterverwendung als Putzlappen zu schlecht sind. Anbieter wie Shein aus China bieten täglich Neuheiten; diese werden überwiegend von Teenies in aller Welt gekauft, also der Generation „Fridays for Future“. Mit wechselnden Moden hat die Fast Fashion nur sehr bedingt zu tun. Es geht vor allem um Konsumanreize. Stores und Medien brauchen schließlich immer neue Impulse.
Berauschung durch Betäubung
Keine Frage, es ist ein großer Gewinn, dass Dank des industriellen Fortschritts „Mode für Millionen“ möglich geworden ist. So entwarf Karl Lagerfeld von 1987 bis 1995 auch Mode für Klaus Steilmann, dem Gründer der Stiftung, die den European Fashion Award FASH auslobt.
Doch die Demokratisierung der Mode hat sich als ein Überkonsum für alle herausgestellt. Der Journalist Gert Scobel analysiert: „In Wirklichkeit handelt es sich nicht um echten Luxus, sondern um seine Simulierung [… die] leer läuft und immer schneller durch neuen Konsum angeregt werden muss.“
Letzlich wirkt der Überkonsum von Mode und Instagram wie eine Narkose. Sie betäubt Langeweile, mangelndes Selbstbewusstsein und oft wohl auch eine unbewusste religiöse Sehnsucht und Orientierungssuche.
Mit etwas Abstand erkennt man schnell, dass der heutige westliche Konsumlevel, den viele für normal halten, ein Ausnahmezustand in der Geschichte ist. Es gibt kein Menschenrecht auf grenzenlosen Konsum. Zumal dies auf Kosten der Umwelt, der Arbeiterinnen und der kommenden Generationen geschieht.
Wie konnte es soweit kommen?
Ein wesentlicher Auslöser des ungeheuren Aufstiegs der Fast Fashion ist das Auslaufen jedweder Handelsbeschränkungen mit dem Fall des Welttextilabkommens (WTO) zum Ende 2004. 1974 waren die Importquoten zum Schutz von Arbeitsplätzen im Westen vor Billigimporten eingeführt worden. Die Abschaffung und Öffnung der Märkte war in Zeiten des Neoliberalismus von der Politik gewollt. Die globale Beschaffung wurde in der Folge neu kalibriert. Die Preise sanken stark. Allein 5 bis 10 Prozent entfielen durch den Wegfall der Kosten für die Quoten. Ganze Länder, wie in Afrika, verloren ihre Textilindustrie. Die Exporte stiegen schon 2005 so stark, dass China auf Druck der EU die Exporte freiwillig begrenzte. Seit der Handel nicht mehr durch Quoten begrenzt wurde, legten die Fast Fashion Anbieter und Textil-Discounter ein ungeheures Wachstum an den Tag.
Brandbeschleuniger
Das Aufkommen des Onlinehandels von Amazon bis Zalando und vor allem der inzwischen fast zum Standard gewordenen kostenlosen Retouren führte zu Rücksendequoten für Mode von bis zu 60 Prozent. „Schrei vor Glück – oder schick‘s zurück“ – auch dies verstärkte den Modekonsum maßgeblich.
Zeitgleich stieg Instagram in kürzester Zeit zum heute dominanten Mode-Medium auf und wirkt wie ein zusätzlicher Brandbeschleuniger. Laut einer Studie des Netzwerks LTK tätigen 42 Prozent der „Gen Z“ den Großteil ihrer Einkäufe über Soziale Medien wie Instagram oder TikTok. Die Folge der billigen Preise und ständig neuen Konsumanreize: Millionen kaufen zu viel Kleidung, zu oft und meist viel zu unüberlegt.
Die Kraft des Irrationalen
Warum kaufen wir soviel? Wir wissen es wohl selber nicht. Und wollen nicht darüber nachdenken. Marktforscher Ralph Ohnemus erklärt die mangelnde Konsequenz mit Hinweis auf den Nobelpreisträger Daniel Kahnemann so: „Wir sind faul und wollen nicht zu viel denken.“ Statt bewusst zu konsumieren, folgen wir einfach unseren Emotionen. Denn beim logischen Denken braucht unser Gehirn viel Energie.
Schon das Luxurieren der Natur – etwa beim Pfau – legt nahe, dass das Streben nach Differenz zur Evolution gehört und dass die Lust an der Verschwendung in der Triebstruktur wurzelt. Und so war ein zur Schau gestellter Konsum schon immer eine Demonstration von Macht. Gerade auf Instagram erhalten laute Inszenierungen Aufmerksamkeit und erhöhen so das „symbolische Kapital“.
Gegen diese Kraft des Irrationalen kommen die Argumente der Vernunft kaum an. Seit der Antike blieben alle Aufrufe zur Askese weitgehend erfolglos.
Statt einen tatsächlichen Bedarf zu stillen, ermöglicht es unser Wohlstand in Verbindung mit billiger Fast Fashion, dass wir heute vielfach nur noch kaufen „um unsere Stimmung zu modulieren“, wie Carl Tillessen in seinem Bestseller „Konsum“ schreibt. Ob aus Langeweile, als Belohnung oder zum Trost.
Der wirksame Weg
Der wirksamste Weg ist denkbar einfach: Kleidungsstücke deutlich länger zu tragen. Auch Secondhand-Kleidung ist eine Möglichkeit, sich ressourcenschonend einzukleiden und weiterhin Spaß an Mode zu haben. Das Geschäft mit Secondhand-Mode boomt. Doch die Gleichung von Secondhand und Nachhaltigkeit geht nur auf, wenn insgesamt nicht mehr Kleidung konsumiert wird. Denn die niedrigen Preise und das gute Gewissen verleiten schnell zu noch mehr Konsum, , dem sogenannten Rebound oder Bumerang-Effekt.
Europa Rekord
Wieviele Altkleider es in Deutschland gibt, ist unklar, da keine genauen Daten erfasst werden. Nach Berechnungen des Bundesverband Sekundärrohstoffe und Entsorgung (BVSE) bringen rund 85 Prozent der Deutschen ihre Altkleider zum Sammelcontainer: ein Rekord in Europa. So werden hierzulande pro Jahr knapp 1,3 Million Tonnen Altkleider in etwa 120.000 Containern gesammelt. Somit landen fast drei Viertel aller ungewollten Kleider bei Textilverwertern.
ZDF Dokumentation von 2018 über das Werk Bitterfeld-Wolfen des Textilrecyclers „Soex“ © Soex
Allein beim Marktführer Soex in Bitterfeld-Wolfen können jedes Jahr bis zu 100.000 Tonnen sortiert werden. Davon sind 10 Prozent neuwertig und werden in deutschen Secondhand Läden verkauft. Weitere 45 Prozent werden als Secondhand-Kleidung in mehr als 45 Ländern exportiert. 15 Prozent werden zu Putzlappen für die Industrie, 20 Prozent werden in der Reisserei in genau definierten Qualitäten zu Rohstoffen für Autohimmel, Isolier- und Füllstoffen, Malervlies oder für Kleiderbügel verarbeitet. Und die letzten 10 Prozent gelten als Abfall, von dem noch 3 Prozent an die Pappenindustrie verkauft werden. Die restlichen 7 Prozent müssen gegen Gebühr fachgerecht verbrannt werden. Allerdings verschieben sich die Anteile. Jedes Jahr landen mehr Textilien im Reisswolf oder der Verbrennungsanlage.
Wir haben keine Lösungen
Jahrzehntelang war das Geschäft mit Altkleidern so einträglich wie einfach gewesen. Die Verwerter wie Soex kauften Kommunen und karitativen Organisationen die gesammelten Altkleider ab, sortierten sie und exportierten das Gros als Secondhandware nach Osteuropa, in den Nahen Osten sowie Afrika. Die Nachfrage war viel höher als das Angebot.
Doch seit 2015 ist dieser Markt im Umbruch. Mehr Fast Fashion in den Sammlungen bedeutet eine deutlich schlechtere Qualität, so die BVSE-Studie von 2015. Da die Sortierer das Recycling der untragbaren Kleidung mit den Erlösen der hochwertigen Secondhandkleidung finanzieren, entstand eine prekäre Situation. Was gut ist für die Umwelt, verschärft die Krise der Textilsortierer.
Die einstige Spitzenware in den Sammlungen wird heute meist direkt von Privat an Privat über Internetplattformen oder über Online-Shops für Vintage-Mode verkauft. Dieses Geschäft wächst laut Global Data 21-mal so schnell wie die gesamte Modeindustrie auf prognostizierte 54 Milliarden Euro im Jahr 2024. Die Verbraucherpreise steigen stark, so dass schon von einer „Gentrifizierung von Secondhandmode“ gesprochen wird. Zugleich wehren sich viele afrikanische Länder zunehmend gegen den Import von Secondhandware. Zudem wird dort Kleidung aus China oft billiger verkauft als europäische Secondhand-Ware, auch wegen stark unterschiedlicher Zollgebühren.
Es quellen nicht nur die Kleiderschränke der Konsumenten über. Auch die Lagerhallen von Industrie und Handel sind mit überschüssiger Neuware und Retouren voll. Die Absatzmärkte sind hingegen übersättigt. Laut dem Spitzenverband Euratex gibt es keinen Plan, wohin wir in Europa mit künftig mehr als 5 Millionen Tonnen Altkleidern sollen. Diese Menge dürfte nochmals um geschätzte zwei Millionen Tonnen pro Jahr steigen, wenn ab dem 1. Januar 2025 das EU-Abfallrecht die getrennte Sammlung von Textilien vorschreibt. Dafür gibt es aktuell in Europa keine ausreichenden Sortier- und Verwertungskapazitäten. Zumal die EU ab 2023 den Export von Textilabfällen in Nicht-OECD-Länder verbieten will.
Es sind mehrere sich verstärkende Teufelskreise entstanden, aus denen es keinen Ausweg zu geben scheint. Sie sind für die Mode in ökologischer und sozialer Hinsicht so verheerend, dass die ersten Experten schon Bekleidungskontingente für jeden Bürger ins Gespräch bringen. Es ist wie in Goethes Zauberlehrling: Was als Segen anfing, wurde zur Ausgeburt der Hölle: „Die ich rief, die Geister, werd ich nun nicht los.“
Durch die Pandemie, Social Media und Games, Diskussionen über Diversität und Gender sowie neue Kunstformen und die US-Popkultur aber auch durch die Digitalisierung und Nachhaltigkeit befinden sich Werte und damit die Ästhetik in einem so starken Wandel, wie wohl seit den 1960er Jahren nicht mehr. Das gibt die Chance für eine ganz neue Mode. Und damit für neue Wertstoffketten.
Zum Teil II Optionen: Besser als das Gleiche in Grün
Joachim Schirrmacher
Nach seiner Lehre zum Einzelhandelskaufmann studierte er Designmanagement mit Schwerpunkten wie Ökologie oder Gender. Seit 1994 beschäftigt er sich in seiner Arbeit mit Nachhaltiger Mode. Er arbeitet seit über 20 Jahren als Autor (Chefredakteur Style in Progress, Tagesspiegel, NZZ), Sprecher (Copenhagen Business School, Goethe-Institut, HDS/L) und Kommunikationsexperte für Unternehmen wie Carroux Caffee, Freitag Lab AG, Messe München oder Retail Brand Services sowie Institutionen wie dem Auswärtigen Amt. Seit 2004 verantwortet er pro bono den European Fashion Award FASH der SDBI.DE www.schirrmacher.org
Über nachhaltige und faire Mode wird seit Jahrzehnten intensiv diskutiert. Alle reden von Kreislaufwirtschaft, und viele Modeunternehmen haben Sustainability-Projekte angekündigt. Doch die Realität ist mehr als ernüchternd. Nun will die Europäische Kommission mit einer umfangreichen Textilstrategie die Mode zur Nachhaltigkeit verpflichten.
Eine Analyse von Joachim Schirrmacher
Zum Teil II Optionen: Besser als das Gleiche in Grün
85 Prozent aller Unternehmen sehen Nachhaltigkeit als Unternehmensstrategie. Das liegt neben allem persönlichen Engagement von Frauen wie Antje von Dewitz und Männern wie Michael Otto auch daran, dass inzwischen fast alle größeren Modeunternehmen im Besitz von Investoren oder Aktiengesellschaften sind. Vieles ist daher ein Ankündigungsmarketing, das sich an die Öffentlichkeit richtet und die Shareholder abholen soll. Zumeist werden Vorzeigeprojekte in kleinen Stückzahlen aufgelegt. Das Kerngeschäft ändert sich hingegen kaum.
Circular Economy statt Recycling?
Besonders beliebt ist das Werben für eine Kreislaufwirtschaft mit Slogans wie „Recyceln Sie Mode“. Aus alt wird neu, ein perfektes Perpetuum Mobile: Regen fällt, fließt durch die Obstwiese und in einen Fluss, weiter ins Meer, verdunstet in den Himmel und fällt wieder. Nur zu gerne wollen wir es glauben.
Damit die Modeindustrie nicht nur redet will die Europäische Kommission sie jetzt zur Nachhaltigkeit verpflichten. Sie sagt damit der Fast Fashion und Überproduktion sowie dem Greenwashing den Kampf an. Ende März hat sie dazu eine umfangreiche und ehrgeizige „EU-Strategie für nachhaltige und kreislauffähige Textilien“ (EU-Textilstrategie) vorgestellt.
Bis 2030 sollen in der EU auf den Markt gebrachte Textilien langlebig und kreislauffähig gestaltet und unter Wahrung der sozialen Rechte und des Umweltschutzes hergestellt sein. Sie sollen dabei größtenteils aus Recyclingfasern bestehen und frei von umweltschädlichen Schadstoffen und Mikroplastik sein. Zudem soll die Kreislaufwirtschaft in der Mode florieren und über ausreichende Kapazitäten für ein Faser-zu-Faser-Recycling verfügen. Hersteller müssen künftig die Verantwortung für ihre Produkte vom Design bis zur Entsorgung übernehmen.
Von Null auf Hundert
Die Ziele sind extrem ehrgeizig, denn bislang ist die „Circular Economy“ in der Mode nur Vision. Einen echten Kreislauf, in dem Altkleider zu neuen Textilien werden, gibt es bisher nicht. Neben Secondhandkleidung ist das Recycling von Altkleidern, die nicht mehr getragen werden können, derzeit die einzige Lösung. Doch dieses Recycling ist eine Abwärtsspirale, kein Kreislauf. Jeans werden bestenfalls zu Viskosegarnen, die meisten Textilien jedoch zu Putzlappen für die Industrie, Vlies- und Isolierstoffen oder Pappe. Immerhin ein Fortschritt zum linearen Modell, bei dem die Alttextilien direkt in der Verbrennung oder auf einer Deponie landeten.
Viele andere Projekte sind Scheinlösungen. So stammt recyceltes Polyester in Kleidung von PET-Flaschen und nicht aus Polyesterkleidung aus dem Altkleider-Container. Daher muss für die Flaschenproduktion auch neues Polyester verwendet werden. Die EU-Kommission sieht dies als Irreführung der Verbraucher und als Verstoß gegen den geschlossenen Kreislauf für PET- Lebensmittelflaschen.
Und so sinnvoll ein Upcycling, also aus älteren Teilen neue Kleidung zu nähen, im privaten Bereich, für Kleinserien und vor allem für einen Bewusstseinswandel ist, bietet es keine industrielle Perspektive.
Biobasierte Garne aus Algen, Ananas- oder Bananenschalen, Blüten, CO2 oder Milch, Lebensmittelreste zum Färben von Textilien oder das biologisch abbaubare Stretchgarn Coreva stecken noch in den Kinderschuhen.
Die EU-Kommission ruft daher die Unternehmen auf, ihre Bemühungen auf das Faser-zu-Faser-Recycling zu konzentrieren. Derzeit liegt der Anteil unter einem Prozent, so die Ellen-MacArthur-Stiftung. Es gilt also eine „Lücke“ von 99 Prozent in nur acht Jahren zu schließen. Bislang gibt es nur wenige Forschungs- und Pilotprojekte. Und diese sind noch ganz am Anfang mit minimalen Produktionsmengen, die angekündigt wurden. Zu den wichtigsten Projekten zählen:
– Prozesssichere Materialerkennung (verschiedene Ansätze wie Chips circularity.ID)
– Optimiertes mechanisches Recycling mit längeren Fasern
– Chemisches Trennen von Polyester/Baumwolle (Re:wind, Resyntex mit I Collect und Soex, Uni Wien, Worn Again Technologies)
– Chemische Umwandlung von Baumwolle zu Viskose (Evrnu, re:newcell, Saxion, SaXcell, Södra, Lenzing)
– Trennung von Baumwoll/Elasthan (Re:Mix)
Keine Frage: Dies sind wichtige Fortschritte, und es gibt große Hoffnungen, dass aus dem Faser-zu-Faser-Recycling ein gigantisches Geschäft wird. Doch die Herausforderungen sind noch enorm: Der Energieaufwand z.B. für das Säubern und Entfärben ist sehr hoch. Der Mix verschiedener Polyesterarten ist problematisch. Elasthan oder Chemikalien in den Alttextilien beeinträchtigen den Prozess. Beispielsweise verstopfen sie die Düsen der Spinnmaschinen. Recyclingfasern sind zudem teurer als Primärrohstoffe.
Wo liegt das Problem?
Auf absehbare Zeit findet daher ein Recycling von Fasern zu neuen Kleidern, aufgrund technologischer Grenzen wie der Faserlänge, im großindustriellen Maßstab praktisch nicht statt. Eine Übersicht von 2021 zum Stand der Recycling-Technik der RWTH Aachen kommt sogar zu dem ernüchternden Fazit: „Recycling wird die Nachhaltigkeitsprobleme in der Textil-Industrie nicht lösen.“
Das Versprechen der Bioökonomie bzw. des Green Deal, wir könnten dank des technologischen Fortschritts mit reinem Gewissen so weiterleben wie bisher, erscheint also als Illusion.
Dabei geht es um unfassbare Mengen. Seit dem Jahr 2000 hat sich laut der Ellen-MacArthur-Stiftung der Konsum von Kleidung verdoppelt und die Tragezeit zudem halbiert. Da die Preise für Mode in der EU zwischen 1996 und 2018 inflationsbereinigt laut der EU-Textilstrategie um über 30 Prozent gesunken sind, sind Mengen aussagekräftiger als Umsätze, um sich die Dimensionen vor Augen zu führen.
Pro Jahr werden schätzungsweise statt einst 50 jetzt etwa 120 Milliarden Kleidungsstücke weltweit hergestellt. Greenpeace spricht sogar von rund 200 Milliarden. Davon sollen laut der Ellen MacArthur Stiftung 40 Prozent nicht verkauft worden sein.
Vom Gebrauch zum Verbrauch
In Deutschland wurden davon 2018 laut Statista ca. 4,7 Milliarden Kleidungsstücke verkauft, das sind im Durchschnitt 56 Teile für jeden – vom Baby bis zum Greis. Und das Produktionsvolumen von Kleidungsstücken steigt weiter jährlich um 2,7 Prozent an.
Frauen kaufen deutlich mehr Mode wie Männer: Laut einer Studie der Hochschule Macromedia von 2021 besitzen Frauen im Schnitt 175 und Männer 105,4 Kleidungstücke. Etwa ein Drittel davon wurde in den letzten 12 Monaten gekauft.
Kleidung wird laut der Initiative der Bundesregierung „Grüner Knopf“ im Schnitt viermal getragen, vieles gar nicht. So stehen drei Lieblingsteilen drei sogenannte Schrankleichen gegenüber.
Der Gebrauch wurde zu einem rapiden Verbrauch von Kleidung. Und das nicht nur in Deutschland, Europa oder den USA. Mit dem Anwachsen der Weltbevölkerung bis 2030 auf mehr als 8,5 Milliarden Menschen und steigendem Haushaltseinkommen auch in China, Indien oder Brasilien.
Überfluss bis zum Überdruß
Fast Fashion, also preisgünstige Kleidung oft minderer Qualität, gilt als Hauptverursacher des Überangebots an Mode. Zara brachte als eines der ersten Unternehmen alle zwei Wochen neue Modelle auf den Markt, statt ein- oder zweimal pro Saison. Wer keine Marktanteile verlieren wollte, musste mitziehen. Die Fast Fashion war geboren und wurde als „Demokratisierung der Mode“ gefeiert. Signalwirkung hatte 2004 die Kollektion „Karl Lagerfeld by H&M“. Einige Unternehmen produzieren gar bis zu 52 Kollektionen im Jahr. Oft in Qualitäten, die selbst für eine Weiterverwendung als Putzlappen zu schlecht sind. Anbieter wie Shein aus China bieten täglich Neuheiten; diese werden überwiegend von Teenies in aller Welt gekauft, also der Generation „Fridays for Future“. Mit wechselnden Moden hat die Fast Fashion nur sehr bedingt zu tun. Es geht vor allem um Konsumanreize. Stores und Medien brauchen schließlich immer neue Impulse.
Berauschung durch Betäubung
Keine Frage, es ist ein großer Gewinn, dass Dank des industriellen Fortschritts „Mode für Millionen“ möglich geworden ist. So entwarf Karl Lagerfeld von 1987 bis 1995 auch Mode für Klaus Steilmann, dem Gründer der Stiftung, die den European Fashion Award FASH auslobt.
Doch die Demokratisierung der Mode hat sich als ein Überkonsum für alle herausgestellt. Der Journalist Gert Scobel analysiert: „In Wirklichkeit handelt es sich nicht um echten Luxus, sondern um seine Simulierung [… die] leer läuft und immer schneller durch neuen Konsum angeregt werden muss.“
Letzlich wirkt der Überkonsum von Mode und Instagram wie eine Narkose. Sie betäubt Langeweile, mangelndes Selbstbewusstsein und oft wohl auch eine unbewusste religiöse Sehnsucht und Orientierungssuche.
Mit etwas Abstand erkennt man schnell, dass der heutige westliche Konsumlevel, den viele für normal halten, ein Ausnahmezustand in der Geschichte ist. Es gibt kein Menschenrecht auf grenzenlosen Konsum. Zumal dies auf Kosten der Umwelt, der Arbeiterinnen und der kommenden Generationen geschieht.
Wie konnte es soweit kommen?
Ein wesentlicher Auslöser des ungeheuren Aufstiegs der Fast Fashion ist das Auslaufen jedweder Handelsbeschränkungen mit dem Fall des Welttextilabkommens (WTO) zum Ende 2004. 1974 waren die Importquoten zum Schutz von Arbeitsplätzen im Westen vor Billigimporten eingeführt worden. Die Abschaffung und Öffnung der Märkte war in Zeiten des Neoliberalismus von der Politik gewollt. Die globale Beschaffung wurde in der Folge neu kalibriert. Die Preise sanken stark. Allein 5 bis 10 Prozent entfielen durch den Wegfall der Kosten für die Quoten. Ganze Länder, wie in Afrika, verloren ihre Textilindustrie. Die Exporte stiegen schon 2005 so stark, dass China auf Druck der EU die Exporte freiwillig begrenzte. Seit der Handel nicht mehr durch Quoten begrenzt wurde, legten die Fast Fashion Anbieter und Textil-Discounter ein ungeheures Wachstum an den Tag.
Brandbeschleuniger
Das Aufkommen des Onlinehandels von Amazon bis Zalando und vor allem der inzwischen fast zum Standard gewordenen kostenlosen Retouren führte zu Rücksendequoten für Mode von bis zu 60 Prozent. „Schrei vor Glück – oder schick‘s zurück“ – auch dies verstärkte den Modekonsum maßgeblich.
Zeitgleich stieg Instagram in kürzester Zeit zum heute dominanten Mode-Medium auf und wirkt wie ein zusätzlicher Brandbeschleuniger. Laut einer Studie des Netzwerks LTK tätigen 42 Prozent der „Gen Z“ den Großteil ihrer Einkäufe über Soziale Medien wie Instagram oder TikTok. Die Folge der billigen Preise und ständig neuen Konsumanreize: Millionen kaufen zu viel Kleidung, zu oft und meist viel zu unüberlegt.
Die Kraft des Irrationalen
Warum kaufen wir soviel? Wir wissen es wohl selber nicht. Und wollen nicht darüber nachdenken. Marktforscher Ralph Ohnemus erklärt die mangelnde Konsequenz mit Hinweis auf den Nobelpreisträger Daniel Kahnemann so: „Wir sind faul und wollen nicht zu viel denken.“ Statt bewusst zu konsumieren, folgen wir einfach unseren Emotionen. Denn beim logischen Denken braucht unser Gehirn viel Energie.
Schon das Luxurieren der Natur – etwa beim Pfau – legt nahe, dass das Streben nach Differenz zur Evolution gehört und dass die Lust an der Verschwendung in der Triebstruktur wurzelt. Und so war ein zur Schau gestellter Konsum schon immer eine Demonstration von Macht. Gerade auf Instagram erhalten laute Inszenierungen Aufmerksamkeit und erhöhen so das „symbolische Kapital“.
Gegen diese Kraft des Irrationalen kommen die Argumente der Vernunft kaum an. Seit der Antike blieben alle Aufrufe zur Askese weitgehend erfolglos.
Statt einen tatsächlichen Bedarf zu stillen, ermöglicht es unser Wohlstand in Verbindung mit billiger Fast Fashion, dass wir heute vielfach nur noch kaufen „um unsere Stimmung zu modulieren“, wie Carl Tillessen in seinem Bestseller „Konsum“ schreibt. Ob aus Langeweile, als Belohnung oder zum Trost.
Der wirksame Weg
Der wirksamste Weg ist denkbar einfach: Kleidungsstücke deutlich länger zu tragen. Auch Secondhand-Kleidung ist eine Möglichkeit, sich ressourcenschonend einzukleiden und weiterhin Spaß an Mode zu haben. Das Geschäft mit Secondhand-Mode boomt. Doch die Gleichung von Secondhand und Nachhaltigkeit geht nur auf, wenn insgesamt nicht mehr Kleidung konsumiert wird. Denn die niedrigen Preise und das gute Gewissen verleiten schnell zu noch mehr Konsum, , dem sogenannten Rebound oder Bumerang-Effekt.
Europa Rekord
Wieviele Altkleider es in Deutschland gibt, ist unklar, da keine genauen Daten erfasst werden. Nach Berechnungen des Bundesverband Sekundärrohstoffe und Entsorgung (BVSE) bringen rund 85 Prozent der Deutschen ihre Altkleider zum Sammelcontainer: ein Rekord in Europa. So werden hierzulande pro Jahr knapp 1,3 Million Tonnen Altkleider in etwa 120.000 Containern gesammelt. Somit landen fast drei Viertel aller ungewollten Kleider bei Textilverwertern.
ZDF Dokumentation von 2018 über das Werk Bitterfeld-Wolfen des Textilrecyclers „Soex“ © Soex
Allein beim Marktführer Soex in Bitterfeld-Wolfen können jedes Jahr bis zu 100.000 Tonnen sortiert werden. Davon sind 10 Prozent neuwertig und werden in deutschen Secondhand Läden verkauft. Weitere 45 Prozent werden als Secondhand-Kleidung in mehr als 45 Ländern exportiert. 15 Prozent werden zu Putzlappen für die Industrie, 20 Prozent werden in der Reisserei in genau definierten Qualitäten zu Rohstoffen für Autohimmel, Isolier- und Füllstoffen, Malervlies oder für Kleiderbügel verarbeitet. Und die letzten 10 Prozent gelten als Abfall, von dem noch 3 Prozent an die Pappenindustrie verkauft werden. Die restlichen 7 Prozent müssen gegen Gebühr fachgerecht verbrannt werden. Allerdings verschieben sich die Anteile. Jedes Jahr landen mehr Textilien im Reisswolf oder der Verbrennungsanlage.
Wir haben keine Lösungen
Jahrzehntelang war das Geschäft mit Altkleidern so einträglich wie einfach gewesen. Die Verwerter wie Soex kauften Kommunen und karitativen Organisationen die gesammelten Altkleider ab, sortierten sie und exportierten das Gros als Secondhandware nach Osteuropa, in den Nahen Osten sowie Afrika. Die Nachfrage war viel höher als das Angebot.
Doch seit 2015 ist dieser Markt im Umbruch. Mehr Fast Fashion in den Sammlungen bedeutet eine deutlich schlechtere Qualität, so die BVSE-Studie von 2015. Da die Sortierer das Recycling der untragbaren Kleidung mit den Erlösen der hochwertigen Secondhandkleidung finanzieren, entstand eine prekäre Situation. Was gut ist für die Umwelt, verschärft die Krise der Textilsortierer.
Die einstige Spitzenware in den Sammlungen wird heute meist direkt von Privat an Privat über Internetplattformen oder über Online-Shops für Vintage-Mode verkauft. Dieses Geschäft wächst laut Global Data 21-mal so schnell wie die gesamte Modeindustrie auf prognostizierte 54 Milliarden Euro im Jahr 2024. Die Verbraucherpreise steigen stark, so dass schon von einer „Gentrifizierung von Secondhandmode“ gesprochen wird. Zugleich wehren sich viele afrikanische Länder zunehmend gegen den Import von Secondhandware. Zudem wird dort Kleidung aus China oft billiger verkauft als europäische Secondhand-Ware, auch wegen stark unterschiedlicher Zollgebühren.
Es quellen nicht nur die Kleiderschränke der Konsumenten über. Auch die Lagerhallen von Industrie und Handel sind mit überschüssiger Neuware und Retouren voll. Die Absatzmärkte sind hingegen übersättigt. Laut dem Spitzenverband Euratex gibt es keinen Plan, wohin wir in Europa mit künftig mehr als 5 Millionen Tonnen Altkleidern sollen. Diese Menge dürfte nochmals um geschätzte zwei Millionen Tonnen pro Jahr steigen, wenn ab dem 1. Januar 2025 das EU-Abfallrecht die getrennte Sammlung von Textilien vorschreibt. Dafür gibt es aktuell in Europa keine ausreichenden Sortier- und Verwertungskapazitäten. Zumal die EU ab 2023 den Export von Textilabfällen in Nicht-OECD-Länder verbieten will.
Es sind mehrere sich verstärkende Teufelskreise entstanden, aus denen es keinen Ausweg zu geben scheint. Sie sind für die Mode in ökologischer und sozialer Hinsicht so verheerend, dass die ersten Experten schon Bekleidungskontingente für jeden Bürger ins Gespräch bringen. Es ist wie in Goethes Zauberlehrling: Was als Segen anfing, wurde zur Ausgeburt der Hölle: „Die ich rief, die Geister, werd ich nun nicht los.“
Durch die Pandemie, Social Media und Games, Diskussionen über Diversität und Gender sowie neue Kunstformen und die US-Popkultur aber auch durch die Digitalisierung und Nachhaltigkeit befinden sich Werte und damit die Ästhetik in einem so starken Wandel, wie wohl seit den 1960er Jahren nicht mehr. Das gibt die Chance für eine ganz neue Mode. Und damit für neue Wertstoffketten.
Zum Teil II Optionen: Besser als das Gleiche in Grün
Joachim Schirrmacher
Nach seiner Lehre zum Einzelhandelskaufmann studierte er Designmanagement mit Schwerpunkten wie Ökologie oder Gender. Seit 1994 beschäftigt er sich in seiner Arbeit mit Nachhaltiger Mode. Er arbeitet seit über 20 Jahren als Autor (Chefredakteur Style in Progress, Tagesspiegel, NZZ), Sprecher (Copenhagen Business School, Goethe-Institut, HDS/L) und Kommunikationsexperte für Unternehmen wie Carroux Caffee, Freitag Lab AG, Messe München oder Retail Brand Services sowie Institutionen wie dem Auswärtigen Amt. Seit 2004 verantwortet er pro bono den European Fashion Award FASH der SDBI.DE www.schirrmacher.org