Zukunft / 16. Januar 2017
Die Zukunft hat begonnen – Digitalisierung in der Modewelt
Nur noch fünf Stunden statt wie bisher drei Monate soll es künftig von der Bestellung individueller Mode bis zu Auslieferung dauern: die Mode steht am Anfang einer Revolution. Neue Technologien und Materialien bedeuten auch neuartige Entwürfe. Eine Chance, dass Berlin für die Mode des 21. Jahrhunderts steht.
„Die Revolution beginnt in der Fasanenstraße“, sagte Klaus Wowereit, der als VBKI-Präsidiumsmitglied die Diskussion in gewohnt launiger Art moderierte, über die Zukunft der Digitalisierung in der Modewelt.
Mehr als 150 Gäste aus Mode, Industrie, Politik, Medien, Kreativwirtschaft und Hochschulen folgten der Einladung der Stiftung der Deutschen Bekleidungsindustrie (SDBI) und dem Verein Berliner Kaufleute und Industrieller (VBKI) ins visionäre Ludwig Erhard Haus in der Fasanenstraße. Standen vor allem Online-Händler für die Digitalisierung der Mode, erfolgt gerade ein technologischer Durchbruch in der Produktion. Basierte bislang die Herstellung von Mode auf 100 Jahre alten Technologien, lernen jetzt Roboter was sie bisher partout nicht konnten: Kleidung herzustellen.
Adidas Speedfactory
Das weltweit bedeutendste Projekt dieser technologischen Revolution ist die Speedfactory von Adidas. Ihre Produktion ist weitgehend automatisiert. Überall auf der Welt sollen sie als lokale Minifabriken für den lokalen Markt aufgebaut werden (Local-for-local). So können individualisierte Schuhe und Kleidung auch wieder in Deutschland produziert werden. Und das mit Tempo: Nur fünf Stunden statt bisher drei Monate soll es von der Bestellung bis zum Versand dauern. Ein Fertigungskonzept, wie gemacht für die neue Philosophie der Mode: „See now, buy now“, wo direkt nach der Modenschau die Ware verkauft werden soll. Die Ziele liegen in der Steigerung von Produktivität, Flexibilität und Effizienz wie niedrige Lager- und Transportkosten, weniger Wechselkursrisiken, Kosten für Zoll oder Handelshemmnisse entfallen und natürlich: mehr Gewinn. Entwickelt hat Adidas die „Speedfactory“ mit Partnern aus der Automobilindustrie und Hochschulen. Fast nichts existierte, alle Prozesse und Anlagen sowie innovative Materialien wurden neu entwickelt.
Fünf Jahre Vorsprung
Adidas dürfte damit einen Vorsprung von mehreren Jahren haben gegenüber der „Manufacturing Revolution“ von Nike, Reeboks „Liquid Factory“ oder dem Forschungslabor „Lighthouse“ sowie dem Projekt „Glory“ von Under Armour. Die Deutsche Bekleidungsindustrie wie Falke Sport oder Marc Cain setzt seit Jahren auf innovativen 3D-Strick. Auch Roy Robson digitalisiert seine Produktion in der Türkei, um neue Kleidung in drei Wochen liefern zu können. „Die Digitalisierung textiler Produkte und Prozesse wird einen Innovationsschub auch in vielen anderen Branchen auslösen“, sagte Ingeborg Neumann, Präsidentin des Gesamtverband Textil und Mode.
Jeder Tag ist Casual Friday
Neue Technologien und Materialien haben zumeist neue Entwürfe zur Folge. Coco Chanel revolutionierte mit Jersey die Mode, Iris van Herpen ist eine Pionierin des 3-D Druck, während auf den Straßen der Look der Start-ups das Symbol für eine neue Zeit ist, der neue „Dress for succsess“. Selbst im Management sind vielfach Jeans, T-Shirt und Sneaker zu sehen. Kein Entwurf des European Fashion Award FASH 2015 zeigte noch klassische westliche Männermode. Und auch bei den Rentnern gilt: Rolling Stones statt Kurkonzert, Acne statt Brax; man will schließlich nicht zum alten Eisen gehören. Diese scheinbare Nachlässigkeit ist bei genauerem Hinsehen mit großer Sorgfalt inszeniert.
„Dieser neue Look ergibt zusammen mit der Technologie die Chance, dass Berlin für die Mode des 21. Jahrhunderts steht. Er hat seit Jahrzehnten eine starke kommerzielle Basis in Deutschland und ist so weder in Paris noch in Mailand vorhanden“, sagte SDBI-Direktor Joachim Schirrmacher.
Trikoton
Die Modedesignerin Magdalena Kohler und Interaktive-Designerin Hanna Wiesener präsentierten ihren Stimmstrick Trikoton, den sie 2007 im Forschungsprojekt Design Reaktor der Universität der Künste Berlin entwarfen. Auf der Webseite Trikoton.com konnte jeder ganz einfach Audiobotschaften wie Gedichte, Musikstücke oder Filmzitate aufnehmen. Diese wurden dann automatisch in ein individuelles Strickmuster umgewandelt und gingen direkt zu den Strickmaschinen in Thüringen. Eine automatisierte Einzelstückfertigung wie bei der Speedfactory, nur 10 Jahre früher.
Allerdings war die Zeit noch nicht reif, kam damals doch gerade das iPhone auf den Markt. Heute gibt es das Konzept bei Wollaa.com oder dem Londoner Label Knyttan, das mit 2 Millionen Pfund Start-up Kapital den 200 Milliarden schweren Markt für Strick aufrollen will und Adidas präsentiert ein vergleichbares Konzept im Pop-Up „knit-for-you“ bis Ende Februar 2017 im Bikini Berlin.
Ich will alles und zwar sofort
Auch der Online-Handel entwickelt sich rasant weiter. Hier geben die Kunden Tempo und Richtung vor – mit einem hohen Anspruch an Qualität, Inszenierung, Service und Marke bei starke Illoyalität: „Ich will alles und zwar sofort!“. Amazon will bis 2020 auch in der Mode der größte Anbieter werden. Das Einkaufen in den Läden wird immer mehr Teil der Unterhaltungsindustrie, alles andere wird zunehmend online gekauft und auch hier „wird Mode über Gefühle durch digitales Erlebnis verkauft“, sagte Sebastian Schulze Gründer des Online-Größenberaters Fit Analytics. Schulze: „Die Trennung zwischen Online und Offline wird sich auflösen.“ Als Folge droht insbesondere mittelgrossen und kleinere Städten die Verödung und dürfte bald auch die Immobilienbranche in Schwierigkeiten bringen. Als Gegentrend entsteht das Verlangen nach Raffinesse, dem Individuellen und Besonderen, eine große Chance für Berliner Designer.
Chancen und Herausforderungen
Deutschland hat alles, was es für die Mode des 21. Jahrhunderts braucht: sehr gut ausgebildete Designer und Ingenieure, weltweit führende Textilmaschinen-Hersteller, herausragende Logistik und ausgezeichnete Fotografen.
Doch damit der Sprung an die Weltspitze gelingt müssen Designer, IT-Experten, Wissenschaftler, Ingenieure und Kaufleute eine gemeinsame Sprache finden; was nicht ohne Vermittler möglich sein wird.
Dafür müssen die Inhalte von Ausbildung und Studium angepasst und die Schulen entsprechend ausgestattet sowie die Lücke zwischen Modeschule und Industrie überbrückt werden. „Warum ist Gestaltung nicht Pflichtfach ab der 1. Klasse?“, fragte Claudia Braun, Leiterin Color & Trim bei Mercedes-Benz. Wenn man miteinander redet, kann man viele Potentiale heben, das kann man von der Speedfactory lernen.
Fazit: Es braucht eine Start-Up Beratung die auf den speziellen Markt der Mode zugeschnitten ist. Es braucht also ein Kompetenzzentrum Mode, ähnlich wie zum Beispiel der Wissenschafts- und Technologiepark Berlin Adlershof.
Prominente Gäste
Beim Networking mit VDP-Spitzenweinen kam die gut 150 Gäste aus Mode und Berliner Wirtschaft ins Gespräch.
Unter den Gästen waren Tobias Gröber (Bereichsleiter Konsumgüter Messe München), Eva Gronbach (Designerin), Prof. Dr. Eckard Minx (Vorstand Daimler und Benz Stiftung), Kostas Murkudis (Designer), Oliver Schmidthals (Edenspiekermann AG), Dr. Franco P Tettamanti (Fotograf) sowie Verantwortliche führender Unternehmen wie AOK, Commerzbank, E.ON, Gerry Weber, Gegenbauer, Investitionsbank Berlin, KPMG, Peek & Cloppenburg, Max Mara, Mercedes-Benz, Nike, WallDecaux, We Want Shoes oder Zalando.
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